Zuflucht im Teehaus
ich mich ihnen so nahe fühlte. Ganz ähnliche Empfindungen hatte ich manchmal beim Erwerb von Antiquitäten; normalerweise bedeutete das, daß ich das fragliche Stück schon einmal irgendwo gesehen hatte.
Ich versuchte, mich zu erinnern, und plötzlich wußte ich es wieder: Ich hatte diese beiden Gesichter schon einmal in Denen-Chofu gesehen, als ich mir die Holzdrucke angeschaut hatte. Ihr Gesichtsausdruck hatte mir seinerzeit das Gefühl gegeben, ich spioniere in Haru und Nomo Idetas Haus herum. Jetzt wurde mir klar, wer sie wirklich waren: Nana Mihoris Geschwister.
17
Es blieb keine Zeit zum Nachdenken. Der Fernseher lief nicht mehr, und ich hörte schnelle Schritte im Flur.
Ich verschwand durch die Glastür und fiel fast in den Garten. Als ich meine Schuhe anzog, ging ein Licht an, und ein Schwarm Motten flatterte ins Haus. Jemand stieß ein verärgertes Geräusch aus und ging zur Tür. Ich rollte unter einen Busch und hörte, wie der Betreffende die Tür schloß. Dann begann eine dunkle Gestalt den Motten hinterherzujagen. Schließlich ging das Licht wieder aus, und ich hatte endlich den Mut aufzustehen und mich zu entfernen. Der Chor der Zikaden schien sich über mich lustig zu machen, als ich den Pfad zum Teehaus entlangtappte und mir über das klarzuwerden versuchte, was ich gerade herausgefunden hatte.
Nana Mihori hatte mich also benutzt. Sie wollte Nomu Idetas tansu ,war aber aus irgendeinem Grund nicht bereit, sie selbst zu kaufen. Sie hatte mich auf der Suche danach durch halb Japan gehetzt und sich die Geschichte, daß Mrs. Kita ihr Hita Fine Arts empfohlen hatte, ausgedacht, damit ich keinen Verdacht schöpfte.
Allerdings war ich aus der mir zugedachten Rolle gefallen, als ich die tansu nicht lieferte. Wenn mir die ausgetauschten Metallbeschläge nicht aufgefallen wären, hätte alles wunderbar geklappt. Nana Mihori hatte keine hochwertige tansu aus der Edo-Zeit gewollt. Sie hatte sich nur etwas gewünscht, das ihrem Bruder gehörte.
Ich versuchte mich an die Einzelheiten meines Besuchs bei Mr. Sakai zu erinnern. Als ich ihn das erstemal angerufen hatte, um ihn zu fragen, ob er Kommoden auf Lager habe, hatte er eine Kundin erwähnt, die die tansu hatte zurückstellen lassen. Als ich diese dann kaufte, war ich der Meinung gewesen, daß die Frau mit dem Leberfleck besagte Frau gewesen sei. Doch als ich entdeckt hatte, daß sie seine Gattin war, hatte ich gewußt, daß das nicht stimmte. Es war wahrscheinlicher, daß die Kundin, die die Kommode hatte zurückstellen lassen, bis ich auf den Plan trat, zur Mihori-Familie gehörte.
Ich kramte meinen schmalen Terminkalender aus dem Matchbeutel und versuchte mich zu erinnern, was Akemi über tomobiki ,den freien Tag der Priester und ihrer Familien, gesagt hatte. Als ich sechs Tage von meiner Ankunft im Tempel zurückrechnete, fand ich im Kalender das kanji- Symbol für den freien Tag der Priester am Mittwoch – jenem Tag, an dem Nao Sakai in Jun Kurois Wagen umgebracht worden war.
Jeder der Mihori-Familie konnte damit zu tun haben. Ich bekam eine Gänsehaut, als mir einfiel, daß ich am Samstagabend alle Gäste aus dem Arbeitszimmer gescheucht hatte, nur nicht Mutter und Tochter. Nachdem der Arzt aus dem Raum gekommen war, um die Fragen der Anwesenden über Akemis Zustand zu beantworten, waren Nana und Akemi mindestens zehn Minuten lang in dem Zimmer allein gewesen. Vielleicht war Akemis Drogenrausch genauso vorgetäuscht gewesen wie ihre schwache Form bei der Olympiade.
Als ich außer meiner Gänsehaut noch etwas anderes auf meinem Rücken spürte, wußte ich, daß mich die Realität wieder eingeholt hatte. Unter meinem T-Shirt holte ich eine rote Ameise hervor. Ich stieß nicht einmal einen Schrei aus. Jetzt gab es schlimmere Dinge, vor denen ich Angst haben mußte.
Es war stockdunkel, als die Weckfunktion an meiner Armbanduhr mich aus dem Schlaf riß. Vier Uhr – das bedeutete, daß die Zen-Meditation fünfzehn Minuten später im Hauptraum des Tempels beginnen würde. Ich wühlte in den Kleidern, die Akemi mir gebracht hatte, und entschied mich für eine weite Baumwollhose, die gerade richtig war, um damit im Schneidersitz zu sitzen. Dann zog ich ein T-Shirt an und machte mich auf die Suche nach der öffentlichen Toilette, wo ich mich waschen konnte, bevor ich den Hauptraum des Tempels betrat. Der graue Marmorwaschraum der Damen war makellos sauber. In manchen Führern wurde er als beste Tempeltoilette in ganz Kamakura gepriesen. Schade,
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