Zuflucht im Teehaus
und hinterher werde ich mir Gedanken über die Wohnung machen. Ich ruf dich an und sag dir die Adresse, sobald ich was habe.«
»Ja, mach das. Auch wenn Hugh deine Nummer nicht will – ich will sie, und wenn’s bloß der Vollständigkeit halber ist.«
Als wir uns an der Roppongi Station voneinander verabschiedeten, hatte ich das merkwürdige Gefühl, daß ich Angus nicht mehr wiedersehen würde. Ich blieb einen Augenblick stehen und schaute ihm noch ein bißchen nach, wie er die Roppongi-dori hinunterging, den Kopfhörer über den Ohren, im Takt zur Musik wippend.
Das Tokyo National Museum ist im Ueno Park, also der Gegend, in der Nao Sakai ermordet wurde. Ich ging die Stufen hinauf, auf denen Mohsen mir mit seiner Telefonkarte ausgeholfen hatte, und betrat den Park. An Springbrunnen vorbei, die einen herrlich kühlen Gischt versprühten, näherte ich mich dem schönen Beaux-Arts-Gebäude, dem Flaggschiff des Museums. An der Kasse erkundigte ich mich nach dem Forschungszentrum; ich war noch nie dort gewesen, dachte aber, daß es der beste Ort war, um mich zu informieren, denn in den Ausstellungsräumen ist nur ein Bruchteil der Schätze zu sehen, die das Museum besitzt.
Ich ging hinter das Hauptgebäude und fand dort das sachlich wirkende Forschungszentrum. Drinnen erklärte mir eine junge Bibliothekarin in weißem Kittel, daß ich alle meine Sachen in ein Fach einschließen, dann wieder zurückkommen und mich in eine Liste eintragen solle.
Ich holte meine Fotos heraus. »Ich würde mir gern ähnliche Stücke wie dieses ansehen.«
»Von welchem Künstler ist das Werk?«
»Ich weiß es nicht. Es könnte aus dem frühen siebzehnten Jahrhundert, aus der Momoyama-Zeit, sein.«
Die Nüstern der Bibliothekarin blähten sich leicht, als rieche sie etwas Leckeres. »Gehört die Schriftrolle Ihnen?«
»Ja. Ich habe sie vor kurzem erworben.« Wahrscheinlich konnte man sie nicht als Eigentum der Ideta-Familie bezeichnen. – Nicht, wenn Nomu Idetas Schwester Haru die tansu Mr. Sakai überlassen hatte, der sie wiederum mir verkauft hatte. Aber hatte Haru gewußt, daß die Schriftrolle in dem doppelten Boden versteckt war? Das bezweifelte ich. Der Gedanke verunsicherte mich ein wenig, als ich der Bibliothekarin in einen riesigen Raum mit Karteikästen folgte.
»Brauchen Sie Hilfe beim Lesen der japanischen Schriftzeichen?«
Ich nickte etwas verlegen, wie immer, wenn ich zugeben mußte, daß ich praktisch Analphabetin war. Doch paradoxerweise stimmte das die Bibliothekarin ein bißchen freundlicher, denn so hatte sie eine Ausrede, meine Nachforschungen mitzuverfolgen. Sie sah sich meine Detailaufnahmen ein paar Sekunden lang mit einem Vergrößerungsglas an und sagte dann: »Das sind Aufzeichnungen über eine Reise, die jemand von Tokio nach Kamakura unternommen hat. Die Schriftrolle ist sehr interessant, weil darauf die Eindrücke des Künstlers über verschiedene Landschaften eine Einheit mit den Haikus bilden. Dieser Teil hier beschäftigt sich mit der Kühle des Nebels.«
»Wirklich? Die Kalligraphie sieht selbst ein bißchen nach Nebel aus, so sanft wie sie sich mit dem Papier verbindet.« Sie steckte mich mit ihrer Begeisterung an.
»Es ist nur schade, daß das Namenssiegel fehlt. Ich kann Ihnen eigentlich nur raten, diese Bücher hier durchzublättern und nach stilistischen Ähnlichkeiten zu suchen. Wenn Sie auf einen Künstler stoßen, dessen Werke ähnlich aussehen, kann ich weitere Nachforschungen anstellen. Vielleicht finden wir dann heraus, wer der Künstler war.«
In der Momoyama-Zeit hatten Tausende von Künstlern gearbeitet; allerdings hatten nur die Werke von knapp hundert die Zeiten überdauert. Ich verfiel in einen tranceähnlichen Zustand, als ich die Seiten mit den Abbildungen durchblätterte. Deshalb fuhr ich hoch, als die Bibliothekarin mir mitteilte, daß das Museum nun schließe.
»Ich habe nur noch zwei Bücher, die ich durchsehen möchte. Könnte ich nicht noch ein paar Minuten bleiben?«
»Nur so lange, wie ich brauche, um aufzuräumen. Aber danach, fürchte ich, muß ich den Raum schließen.«
Wenn man sich mit Kalligraphie beschäftigt, darf man nicht in Eile sein. Da ich kein Namenssiegel des Künstlers hatte, das mir weiterhelfen konnte, mußte ich mich auf Pinselstriche, den Abstand zwischen den einzelnen Zeichen und andere Details wie zum Beispiel darauf konzentrieren, wie der Künstler symbolisch das kanji- Zeichenfür »Nebel« verschwimmen ließ. Ich hatte die ganze
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