Zug um Zug
Deutschen lassen sich leichter ängstigen als ihre Nachbarn. Es fing an mit dem Waldsterben: Plötzlich starb der deutsche Wald, und das war ein Riesenproblem. Heute redet kein Mensch mehr davon, denn der Wald ist gar nicht gestorben. Dann kam die Angst vor den Folgen des ökonomischen Wachstums. Als Nächstes kam die Angst vor der Nachrüstung. Inzwischen kommt die Angst vor der Atomkraft hinzu. Die Deutschen lassen sich leicht ängstigen, und in meinen Augen ist das eine Konsequenz des Hitler’schen Weltkrieges und des Mordes an sechs Millionen europäischen Juden, eine Konsequenz der unterbewussten Angst –
Steinbrück: Das weiß ich nicht, ob ich das so in eine Kausalität bringen würde. Aber ich gebe Ihnen recht, dass die Bereitschaft der Deutschen, sich zu ängstigen – und allerdings auch, sich zu empören –, sehr stark ausgeprägt ist. Ich wundere mich immer, wie häufig wir uns vergiften: Permanent vergiften wir uns an allem Möglichen, aber unsere Lebenserwartung steigt.
Schmidt: Ja, und die Riesengefahr des Nikotins! Ich rauche jeden Tag zwei, drei Päckchen und lebe immer noch! – Aber lassen Sie uns zurückkommen auf die Frage, inwieweit wissenschaftlicher und technischer Fortschritt den globalen Wettbewerb bestimmt. Das Beispiel Japan zeigt, dass man vor einem solchen Wettbewerb keine Angst haben muss. In der Mitte des 19. Jahrhunderts, in den 1860er Jahren, führte die Meiji-Restauration in Tokio zur Öffnung Japans, und innerhalb von zwei Generationen, bis 1914, hatte Japan beinahe komplett aufgeholt zum wissenschaftlichen und technologischen Standard des Westens. Und nach dem Zweiten Weltkrieg, nach einer vernichtenden Niederlage und nach zwei Atombomben, haben sie innerhalb von weniger als dreißig Jahren voll und ganz technologisch aufgeholt und sind sehr erfolgreiche Konkurrenten der alten westlichen Industrienationen geworden. Gleichwohl haben die Europäer es fertiggebracht, nicht nur ihren eigenen Lebensstandard, sondern auch den Sozialstaat aufrechtzuerhalten und auszubauen. Das heißt: Das Auftreten dieses neuen Konkurrenten hat uns nicht gehindert, wissenschaftlich und technologisch weiterhin voranzuschreiten. Und dasselbe kann eintreten in unserem Wettbewerb mit China.
Steinbrück: Wir sollten uns nicht bange machen lassen, wenn andere Länder technologisch aufholen. Es sollte uns vielmehr anspornen, die Fähigkeiten weiterzuentwickeln, die Deutschland bisher in Spitzenpositionen gebracht haben. Zu den ganz großen Vorteilen der deutschen Wirtschaft gehört es zum Beispiel, Systemlösungen anbieten zu können.
Schmidt: Die Chinesen machen das Gleiche, was die Japaner nach der Meiji-Restauration gemacht haben, nur hundert Jahre später. Das muss auch jetzt keineswegs dazu führen, dass wir eine Einbuße an Lebensstandard hinnehmen müssen, wenn wir Forschung und Entwicklung, das heißt Bildung und Ausbildung, mit dem nötigen Nachdruck betreiben.
Was mich in diesem Zusammenhang ein wenig beunruhigt, ist die Zerfaserung der Wissenschaftslandschaft in Deutschland. Ich will ein Beispiel geben. In Amerika gibt es seit dem Zweiten Weltkrieg vier nationale Institutes of Health, und die haben es fertiggebracht, die Vereinigten Staaten von Amerika in die Spitze der medizinischen Forschung zu heben. Die medizinische Versorgung der amerikanischen Nation ist schlechter als die hier in Deutschland. Aber der medizinische Forschungsvorsprung ist unleugbar. Das heißt, das föderativ verfasste Amerika hat auf diesem Feld durch Zentralisation eine Glanzleistung zustande gebracht.
Hingegen ist unsere Forschung weitgehend zerklüftet und dezentralisiert; wir haben furchtbar viel eigenbrötlerische Wichtigtuerei von sechzehn Ländern und Landesministern – möglicherweise erweist sich hier ein Nachteil der deutschen Staatsstruktur. Wenn wir uns vergleichen mit den Franzosen oder mit den Skandinaviern, sind die möglicherweise strukturell besser aufgestellt als wir im Augenblick. Das ist kein Thema, das morgen jemanden vom Stuhl reißt, aber in meinen Augen handelt es sich um ein Thema von kardinaler Bedeutung für die deutsche Zukunft.
Steinbrück: Ich würde mir wünschen, dass die deutsche Forschungslandschaft etwas überschaubarer wird, sie ist auch mir zu stark aufgesplittet. Das gilt insbesondere für die Hochschulen; die TH Aachen oder die TU München spielen weltweit in der ersten Liga, aber mit Blick auf die vielen Universitäten, die wir haben, würde ich mir
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