Zug um Zug
schließlich selbst in Aussicht gestellt, er könnte das Projekt verhindern oder aushebeln, unbenommen der Verträge, die es gibt. Aber ich will früher einsteigen. Projekte mit einer so langen Entwicklungsgeschichte haben den Strickfehler, dass die formalrechtlichen Beteiligungen der Bürgerinnen und Bürger ebenfalls lange zurückliegen. Ich betone, die formalrechtlichen Beteiligungen in einem Planungsverfahren; die liegen im Fall des Stuttgarter Bahnhofsprojektes wahrscheinlich sieben, acht Jahre zurück. Sie werden in dem damaligen Stadium von nicht allzu vielen Bürgern wahrgenommen worden sein.
Der Ruf nach einer Beteiligung wird dann lauter, wenn aktuell buchstäblich der erste Spatenstich oder der erste Rammschlag zur Beseitigung eines alten Gebäudes ansteht. Dann werden Antragsteller und Politik aber kaum auf Anhörungen verweisen können, die mehrere Jahre zurückliegen, ohne Empörung auszulösen. Also wird man parallel zur Planung solcher Projekte sehr viel mehr Transparenz schaffen müssen und Informationen liefern müssen, um Bürger auf dem Laufenden zu halten, und man wird überzeugend nachweisen müssen, dass Großprojekte dieser Dimension, insbesondere auch Verkehrsinfrastrukturprojekte, gerechtfertigt sind.
Das andere sind Kostenschätzungen und die Kosten-Nutzen-Relation, die sich während längerer Planungsverfahren deutlich ändern können. Wenn man die nicht aktualisiert und der Eindruck entsteht, dass sie das Projekt eventuell gar nicht mehr begründen können, verliert man in der öffentlichen Debatte erheblich an Glaubwürdigkeit. Das ist mein Eindruck bezogen auf dieses Stuttgart-21-Projekt.
Schmidt: Dass die »Planfeststellungsverfahren« so lange dauern, hat ja entscheidend damit zu tun, dass es vielerlei Einspruchrechte durch Betroffene gibt, die zum Teil erst von Gerichten entschieden werden können. Sehr viele Rechtsgüter müssen abgewogen werden, und schließlich muss der Prozess zu einem gerichtsfesten Ergebnis geführt werden.
Steinbrück: Darf ich in diesem Zusammenhang noch auf einen mir wichtig erscheinenden Punkt zu sprechen kommen. Ich habe bei mehreren Besuchen in Stuttgart einige ältere Leute gesprochen, die auch auf die Straße gegangen sind, teilweise ein sehr bürgerliches, eher wohlanständig auftretendes Publikum. Mir ist erklärt worden, dass einige von ihnen deshalb gegen dieses Projekt sind, weil sie wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, dass sich im Stadtbild und im Weichbild von Stuttgart nichts verändert. Die stehen auf dem Standpunkt: Mir ist völlig egal, wie die Verkehrssituation und ihre Lösung in zwanzig oder dreißig Jahren ist, das betrifft mich wahrscheinlich auch gar nicht mehr, weil ich dann nicht mehr Bürger dieser Stadt bin, weil ich dann auf dem Friedhof ruhe.
Welche Verkehrsinfrastruktur im Nah- und im Fernbereich eine solche Stadt morgen braucht, interessiert diese älteren Bürger nicht – nach dem Motto: Das ist mit zu tiefen Eingriffen verbunden, die meinem Gefühl gegen Veränderungen zuwiderlaufen und meinem Interesse, Bestehendes zu erhalten, widersprechen. Generell ist mein Eindruck, dass mit der zunehmenden Ausdifferenzierung unserer Gesellschaft – wir sprachen schon von der Pluralisierung und Individualisierung – auch die Gruppeninteressen deutlich zugenommen haben und diese Gruppen stärker und selbstbewusster als früher eine mögliche Vetomacht zur Geltung bringen, um bestimmte Dinge zu verhindern. Dem kann ich nicht unbedingt nur etwas Positives abgewinnen.
Schmidt: Ist dieser älter gewordene bürgerliche Wutbürger auch ein Symbol einer alternden Gesellschaft, die sich vor Veränderungen scheut und keine richtige Zukunftsperspektive hat – nach dem Motto: Die Jahre, die ich noch habe, will ich hier in meinem idyllischen Stuttgart verbringen?
Steinbrück: Absolut. Das läuft hinaus auf eine teilweise aggressive Wahrnehmung von Gegenwartsinteressen. Ich will das noch mal deutlich machen an der Diskussion um das Renteneintrittsalter, und ich will dann noch einen Schritt weiter gehen.
Was passiert mit einer Gesellschaft, in der auch im Parlament die Gegenwartsinteressen, repräsentiert durch Parlamentarier, von denen die meisten älter sind als 55, sich stärker durchsetzen gegenüber den zunehmend von einer Minderheit getragenen Zukunftsinteressen der jüngeren Generation? Das beschäftigt mich zutiefst. Nicht nur ihr Anteil an der Bevölkerung nimmt ab, sondern auch ihr Anteil an der
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