Zug um Zug
hatte außerdem das Risiko der Bergwerksunglücke. Die Risiken der nuklearen Energie waren ebenfalls bekannt. Alle Regierungen haben an dem Konzept festgehalten, die Risiken gleichmäßig zu verteilen. Zum Beispiel haben wir für die Kohle einen sogenannten Jahrhundertvertrag geschlossen, um sie am Leben zu halten, obwohl wir wussten, dass sie zu teuer war, und obwohl wir wussten, dass sie Risiken barg. Die verschiedenen Methoden haben wir parallel betrieben in der Vorstellung, dass man erst später wissen wird, wo die Risiken am größten sind.
Es kann sein, dass sich nun die Überzeugung durchsetzt, dass das nukleare Risiko größer ist als etwa das Risiko des Kohlendioxids. Es kann sein, dass diese Entwicklung dazu führt, dass die regenerierbaren Energien, als da sind Wind oder Wasser oder Erdwärme (ein Feld, das bisher gar nicht bearbeitet wird in unserem Land), einen gewaltigen Auftrieb bekommen. Hier liegen gewiss ganz große Chancen. Die kosten aber Forschung, sie kosten Entwicklung, sie kosten Geld, all das kostet Zeit. Man kann nicht schlagartig die bisher von Kernkraftwerken erzeugte Energie aus Windrädern gewinnen wollen. Das ist so ähnlich wie mit dem Bahnhof in Stuttgart. Man kann nicht von heute auf morgen eine durch mehr als zehn Jahre vorbereitete Entwicklung plötzlich abbrechen und sagen: Wir machen ab sofort alles ganz anders. Solche Entschlüsse wirken heldenhaft, mögen attraktiv sein für junge Leute, bergen aber in sich selbst erhebliche Risiken.
Steinbrück: In der Industrie, insbesondere bei den großen Energieversorgungsunternehmen, die vor einem halben Jahr den Ausstieg aus dem Ausstieg bejubelt und der Kanzlerin Blumenkränze geflochten haben für die längeren Laufzeiten, setzt sich plötzlich der Eindruck durch, dass die früheren Verabredungen mit Rot-Grün viel verlässlicher waren. Und sie beschweren sich mit einer gewissen Berechtigung darüber, dass das Kriterium einer sicheren und einigermaßen preisgünstigen Energieversorgung für die deutsche Wirtschaft durch die wechselhafte Politik der jetzigen Bundesregierung in Frage gestellt sein könnte. Das ist für mich das eigentliche Thema: wie wir dafür Sorge tragen können, dass der Ausstieg aus der Kernenergie so gestaltet wird, dass der industrielle Kern mit seinen Arbeitsplätzen und die damit verbundene Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands nicht negativ berührt werden. Diese politische Verantwortung hat die Bundesregierung nicht wahrgenommen. Die Einsetzung einer Ethikkommission, die fast in Monatsfrist ihr Votum vorzulegen hatte, konnte die komplexen wirtschaftlichen, technischen und finanziellen Fragen natürlich nicht umfassend klären.
Schmidt: Das Stichwort Fukushima gibt mir Anlass zu einer Nachbemerkung. Für mich sind zwei Phänomene sehr eindrucksvoll, die da sichtbar geworden sind. Das eine ist die offensichtliche Hilflosigkeit der japanischen Regierung und des Regierungsapparates, der Verwaltung, mit diesem dreifachen Unglück umzugehen, das da besteht aus einem Erdbeben, einem Tsunami und einem Kernkraftwerksunglück mit Hunderttausenden von Familien, die niemals in ihre eigene Wohnung werden zurückkehren können. Das ist das eine Phänomen: eine ziemlich hilflose Regierung. Das andere Phänomen ist die erstaunliche Disziplin, Gelassenheit und Hilfsbereitschaft des japanischen Volkes – bewundernswert. Ich würde wünschen, die Deutschen wären in einer vergleichbaren Lage – die uns der Himmel ersparen möge! – zu solcher Gelassenheit und Selbstlosigkeit und Tatkraft imstande. Denken Sie nur an die Arbeiter, die da in das Kernkraftwerk reingehen und wissen, dass sie ihr Leben lang verstrahlt bleiben. Ganz erstaunlich und bewundernswert.
Steinbrück: Eine ungewöhnliche Opferbereitschaft!
Schmidt: Und noch eine zweite Nachbemerkung möchte ich machen – zu Stuttgart. Da liegt ein Versagen auch der Medien vor. Die Planungen für den neuen Bahnhof gibt es seit Jahren, aber die öffentliche Meinung der Stadt Stuttgart hat es nicht zur Kenntnis genommen, nicht zuletzt weil die Medien am Ort nicht ausreichend berichtet und kommentiert haben. Und nun plötzlich wachen sie alle auf und finden die Sache schlimm und möchten am liebsten alles rückgängig machen und wissen nicht, wie. Ich weiß es auch nicht. Ich beneide Herrn Kretschmann nicht um die Aufgabe, die er jetzt vor sich sieht.
Steinbrück: Der ist sehr hoch an die Tonne gesegelt, wie man in Norddeutschland sagt. Er hat
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