Zug um Zug
sozialistische Parteien an der Regierung? Warum ist das so? Wie kommt es, dass in Skandinavien mit einer Ausnahme keine Arbeiterpartei oder Sozialdemokratische Partei regiert? Wie kommt es, dass sie in Frankreich nicht regiert? Dass sie in Polen nicht regiert? Es muss ja doch wohl ähnliche Gründe haben.
Vielleicht hängt es mit dem zusammen, was Sie eben als den gegenwärtig nicht ganz befriedigenden Zustand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands bezeichnet haben. Vielleicht ist das in Dänemark, in Schweden, in Holland, in Frankreich ähnlich. Vielleicht haben sie alle ein bisschen zu lange festgehalten an alten Gewohnheiten. Vielleicht sind sie in ihrem tatsächlichen Verhalten alle sehr viel konservativer als andere Parteien. Sie möchten am liebsten alle die Tradition der Arbeiterbewegung fortsetzen. Das kann ich gut verstehen, das hat meine große Sympathie. Aber die Zahl der Arbeiter in der heutigen Gesellschaft – ob in Schweden oder Holland oder Deutschland, macht keinen Unterschied –, die Zahl der Arbeiter in der Gesamtgesellschaft ist heutzutage eine Minderheit geworden, eine Minderheit, die immer kleiner wird. Die Zahl der Angestellten aller Arten, ob Ingenieure oder Elektriker oder Krankenschwestern oder Pfleger, nimmt zu, der Dienstleistungssektor insgesamt nimmt besonders stark zu. Die Wertschöpfung der Deutschen ist im Wesentlichen eine Wertschöpfung aus Dienstleistung.
Steinbrück: Die moralische Dimension der Finanzkrise, die das ordnungspolitische Weltbild von CDU/CSU und FDP sprengt, die Preisgabe konservativ-bürgerlicher Ideale durch Ignoranz und abrupte Richtungswechsel dieser Koalitionsregierung und die Verspätungen der Union im gesellschaftlichen Wandel einmal beiseitegelassen – es fällt auch der SPD schwer, den gesellschaftlichen Wandel mit seiner zunehmenden Pluralisierung und Individualisierung anzuerkennen, weil damit wohl auch das Eingeständnis verbunden wäre, dass sich ihre klassischen, festgefügten Wählergruppen verflüchtigt haben. Peter Glotz hat diese Entwicklung schon heute vor zwanzig Jahren vorausgesehen.
Schmidt: Peter Glotz hatte recht. Heute ist es eine der wichtigsten Aufgaben, den Wertschöpfungsanteil der gewerblichen Produktion aufrechtzuerhalten und, wenn es geht, zu erhöhen. Das setzt voraus: Forschung, Forschung, Forschung! Entwicklung, Entwicklung, Entwicklung! Wenn ich nach China gucke oder ich gucke nach Indien, dann ist eine der wichtigsten Aufgaben der europäischen Gesellschaften, auf dem Feld der wissenschaftlichen Forschung und der anschließenden Anwendung auf technologische Entwicklung in der Spitze der Welt zu bleiben, um nicht im Laufe dieses Jahrhunderts hinter die Chinesen und möglicherweise hinter einen Teil Indiens und einen Teil Brasiliens und anderer Länder zurückzufallen.
Steinbrück: Ihrem Appell, Forschung und Entwicklung voranzutreiben, kann ich mich nur anschließen. Leider stelle ich häufig fest, dass in Deutschland lieber eine Risiko- als eine Chancendebatte geführt wird. Gelegentlich geht mir durch den Kopf, ob das nicht Ausdruck eines ausgeprägten Sicherheitsbedürfnisses der Deutschen ist, das auf die Verstörungen und Brüche in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts zurückgeht. Angesichts der ambivalenten Folgen von Technologieanwendungen muss diese Vorsicht nicht falsch sein, aber ich habe manchmal den Eindruck, dass sowohl die politische als auch die fachliche Auseinandersetzung immer zuerst die Frage nach den Risiken stellt und erst dann die Frage: Welche Chancenpotenziale könnten gehoben werden? Im Übrigen glaube ich, dass wir in Deutschland nach wie vor auf einer Reihe von Feldern absolute Spitze sind – Umwelttechnologie, Materialtechnologie, Chemie, Fahrzeugtechnik oder Maschinenbau. Der deutsche Maschinenbau ist wahrscheinlich der beste der Welt. Nicht zu vergessen: sehr mittelständisch organisiert, insbesondere in Baden-Württemberg. Da kommen wir dann auf die Tüftler und Erfinder, die wir brauchen, um unsere Position zu halten. Aber wer studiert Naturwissenschaften oder Ingenieurwissenschaften, wenn er sich hinterher gar nicht anerkannt fühlt und sich in aufgewühlten Risikodebatten ständig in die Defensive gedrängt sieht?
Schmidt: Zu Ihrer Bemerkung über die zu große Rolle, die das Risikodenken gegenüber dem Chancendenken in Deutschland spielt: Diese Tatsache hängt in der Tat mit den Brüchen in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts zusammen. Die
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