Zug um Zug
Beginn der Neuzeit bezeichnen, die ökonomisch stärkere Macht, einschließlich der Fähigkeit, Innovationen voranzutreiben. Auch unter kulturellen Gesichtspunkten sind die Chinesen weit über das Mittelalter hinaus den Europäern voraus gewesen. Ich glaube nicht, dass der Einfluss des Westens bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts völlig abgelöst wird durch andere Zentren, aber er wird stark relativiert. Die Welt wird darüber, wie ich glaube, multipolarer werden. Und in diesem Zusammenhang frage ich noch einmal, wie die Amerikaner damit umgehen werden. Unterschätzen wir die Erneuerungsfähigkeit und den Spirit der USA, aus den Problemen herauszukommen?
Schmidt: Ich habe das nie getan. Die Vitalität der amerikanischen Gesellschaft scheint mir ungebrochen, und sie erscheint mir als eine der größten im Weltvergleich überhaupt.
Steinbrück: Ja. Das hat etwas mit dem Frontier Spirit zu tun, damit, dass Einwanderer in dieses Land geströmt sind, die Unterdrückung und Depression entgehen wollten und in einem bis dahin unbekannten Ausmaß von Eigenverantwortung versucht haben, ihr Leben selbst zu bestimmen. Dabei entwickelten sie eine enorme Mobilität und Vitalität.
Schmidt: Diese Mentalität des »Go West, Young Man« ist natürlich auch der Urgrund für den amerikanischen Kapitalismus.
Steinbrück: Und für die teilweise Verachtung alles Staatlichen. Deshalb empfinde ich die augenblicklichen Probleme der USA als so bedrückend. Denn um da herauszukommen, bräuchte das Land eine durchsetzungsfähige Regierung, die es auch von dem Irrglauben abbringt, man könne alles individuell regeln und auf staatliche Ausgleichsmechanismen verzichten.
Schmidt: Wobei dieser Widerstand gegen staatliche Regulierung in meinen Augen dazu führt, dass wir mit der nächsten amerikanischen Bankenkrise rechnen müssen.
Steinbrück: Die Mentalität der Amerikaner gerät noch von einer anderen Seite unter Druck. Bisher sahen sie sich immer als Sieger. Aber was heißt es für Amerikaner, wenn sie feststellen, dass sie nicht mehr die meisten Goldmedaillen gewinnen? Was heißt es für die USA, wenn sie feststellen, dass sie nicht mehr der Dirigent eines Weltorchesters sind, sondern nur noch die erste Geige spielen? Diesen Lernprozess hat Europa immer wieder mühsam vollzogen. Ob das nun Spanien oder die Niederlande gewesen sind, ob es Großbritannien, ob es das kaiserliche Deutschland gewesen ist – eine ganze Reihe von europäischen Weltmächten hat das mühsam, unter teilweise großen Opfern gelernt. Die Amerikaner haben diese Erfahrung noch nicht gemacht, sie wissen noch nicht, wie man mit abnehmendem Einfluss umgeht. Was heißt es für das Selbstbewusstsein von God’s Own Country, festzustellen, dass man nicht mehr die Vorherrschaft hat, sondern in Zukunft zwar eine dominante Rolle spielen, aber die Agenda nicht mehr allein bestimmen wird?
Schmidt: Wahrscheinlich werden die Amerikaner bis in die Mitte dieses Jahrhunderts brauchen, um die sich heute schon abzeichnende Wandlung zur multipolaren Welt in Gelassenheit hinzunehmen.
Steinbrück: Aber was hieße es für die Welt insgesamt, wenn eines Tages mit China die stärkste Volkswirtschaft der Welt keine Demokratie mehr wäre?
Schmidt: Das bedeutet für die Welt zunächst gar nichts. Man darf die Bedeutung der Demokratie für die Weltbevölkerung nicht überschätzen. Man darf die Demokratie auch nicht übermäßig idealisieren. Demokratie ist eine sehr menschliche Einrichtung mit einer Reihe von Schwächen. Es gibt andere Regierungsformen, und diese anderen Regierungsformen haben bisher größtenteils die Welt regiert, soweit man die Geschichte kennt. Es hat eine Demokratie weder im alten Ägypten gegeben noch im alten China, noch im alten Indien, noch in Russland, noch in Schwarzafrika, noch irgendwo – außer seit 250 Jahren in Nordamerika und in Europa: zum Teil eindrucksvoll, zum Teil mit sehr vielen Ups and Downs und zum Teil mit erheblicher Verspätung. Das erste bisschen Demokratie in Deutschland stammt aus dem Jahre 1871, als es einen Reichstag gab. Der durfte zwar nicht den Reichskanzler wählen, aber immerhin war ihm vorbehalten, den Haushalt festzustellen.
Außerdem mache ich darauf aufmerksam, dass das Prinzip des Friedens oder der Wille zum Frieden mit der Demokratie leider ganz wenig zu tun hat. Die Kriege, die wir in den letzten fünfhundert Jahren in Europa erlebt haben, wurden von der Entwicklung der Demokratie in keiner
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