Zug um Zug
Entwicklung automatisch, wie ich glaube, nicht nur die USA, sondern auch Deutschland und Europa berühren. Noch sehe ich den chinesischen Nationalismus nicht als ein Gefährdungspotenzial. Es kann auch sein, dass Sie recht haben und der Konfuzianismus zunehmend die kommunistische Ideologie ersetzt und eine Art Klammer bildet. Aber mein Eindruck ist, dass das Wohlstandsversprechen in China die wichtigste Rolle spielt. Chinesische Offizielle machen keinen Hehl daraus, dass sie eine Minimumswachstumsrate von sieben bis acht Prozent brauchen, um die innerchinesischen Gegensätze auszugleichen und das Wohlstandsversprechen aufrechtzuerhalten. Daraus ergibt sich dann zwangsläufig ein stark exportorientiertes Wachstumsmodell und damit eine Interessenlage, in der ein partnerschaftliches Verhältnis zu den USA und anderen Handelspartnern oberste Priorität hat.
Im Übrigen beobachte ich mit einer gewissen Faszination, dass das chinesische Modell, das Modell eines staatskapitalistischen Systems mit kommunistischem Überbau, in der globalen Konkurrenz unterschiedlicher ökonomischer Modelle in vielen Ländern der früher sogenannten Dritten Welt als durchaus attraktiv gilt. In einigen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas wird es heute dem pluralistischen Modell der Europäer mit Meinungs- und Pressefreiheit deutlich vorgezogen.
Schmidt: Ich bin nicht sicher, ob man die gegenwärtige chinesische Gesellschaft ausreichend charakterisiert, wenn man sie mit der Überschrift »Staatskapitalismus« versieht. Vieles ist Staatskapitalismus, vieles andere ist reiner Privatkapitalismus –
Steinbrück: Aber unter der Führung der Partei –
Schmidt: Nicht unter der Führung, aber unter der latenten Kontrolle. Die Partei kann eingreifen, aber sie greift relativ wenig ein.
Steinbrück: Wie auch immer, das Modell China könnte für autokratische Systeme sehr attraktiv sein. Mit der Implosion des Sowjetkommunismus und dem Wegfall der ideologischen Systemkonkurrenz 1989/90 ist ja nicht das Ende der Geschichte eingeläutet worden, wie der amerikanische Historiker Francis Fukuyama prophezeit hat, sondern die ideologische Konkurrenz ist ersetzt worden durch eine ökonomische Konkurrenz. Was mich interessiert, ist die Frage, ob die Bevölkerung von Ländern wie China, wenn sie einen bestimmten materiellen Wohlstand erreicht hat, nach anderen Werten fragt, nach Werten, wie Europa sie liefert. Ob die Leute sagen: Jetzt haben wir ein gewisses Wohlstandsniveau erreicht, jetzt sind wir auch interessiert an den Segnungen des Sozialstaates, an Rechtsstaatlichkeit, an unabhängigen Gerichten, an Freizügigkeit, an Meinungs- und Pressefreiheit. Liefert Europa eventuell doch ein Vorbild, das für andere Länder interessant sein könnte?
Schmidt: Ich will zunächst daran erinnern, dass es auch für die Chinesen ein Vorbild gibt, nämlich Singapur. Ob Sie das jetzt ein autokratisches oder ein staatskapitalistisches Modell nennen, ist ziemlich gleichgültig, in jedem Fall wird das Beispiel Singapur in China sehr genau beobachtet. Von Deng über Jiang Zemin bis zu Hu Jintao – und wahrscheinlich gilt das auch für dessen präsumtiven Nachfolger – schauen die chinesischen Führer seit Jahrzehnten mit großem Respekt nach Singapur und sagen: Das, was Lee Kuan Yew in diesem relativ kleinen Stadtstaat mit fünf oder sechs Millionen Menschen zustande gebracht hat, das wollen wir auch. Singapur ist im Verhältnis zur Größe Chinas völlig unbedeutend, aber die Schwierigkeiten waren ähnliche. Es kommt noch etwas hinzu, was in China eine viel geringere Rolle spielt: In Singapur hat man es mit einem Völkergemisch zu tun – einige 70 Prozent Chinesen, einige 15 Prozent Malayen und einige 7 oder 8 Prozent Tamilen. Drei völlig verschiedene Ethnien, die sich alle gegenseitig die Hälse abschneiden würden, wenn es keine starke Ordnungsmacht gäbe, sprich: eine Regierung und einen Staat, die hart durchgreifen. In China gibt es diese Völkervielfalt auch, aber 90 Prozent sind Han-Chinesen. Dennoch spielt das Bild des starken Staates in den Köpfen der heutigen Chinesen durchaus eine Rolle.
Steinbrück: Natürlich stellt sich die Frage, ob ein – ich bleibe bei dem Ausdruck – staatskapitalistisch-autokratisches System nicht attraktiver ist für die Menschen dort, zumal es den Traditionen und der Historie dieser Länder eher entspricht.
Schmidt: Jedenfalls spielen die Menschenrechte in der chinesischen
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