Zug um Zug
Identifikationsfigur wird Mao immer einen Stellenwert in China haben.
Schmidt: Das gilt auch für zwei Errungenschaften Maos, die heute nicht richtig bewertet werden. Das eine ist die Befreiung der Frau, die sich zwar nicht auf alle Bereiche auswirkte, die aber tatsächlich zu einer Gleichstellung der Frauen in China geführt hat, die für Asien insgesamt beispielhaft ist. Das andere ist die im Ergebnis nicht unumstrittene Ein-Kind-Politik. Sie wurde zu Zeiten Maos begonnen, aber ihre gewaltigen Auswirkungen zeigen sich erst heute in vollem Umfang, nicht nur im Männerüberschuss und Frauendefizit, sondern vor allem in der Überalterung der chinesischen Gesellschaft. Die chinesische Gesellschaft unterliegt einem ähnlichen Überalterungsprozess wie die europäische.
Steinbrück: Das führt uns noch einmal zurück zu den limitierenden Faktoren der chinesischen Entwicklung. Ich stand einmal sehr unter dem Eindruck eines Gesprächs mit einem stellvertretenden chinesischen Ministerpräsidenten, der mich nach dem deutschen Rentenversicherungssystem fragte. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich begriff, weshalb er danach fragte. Er fragte danach vor dem Hintergrund der Überalterung der chinesischen Gesellschaft, und konkret lautete sein Problem: Wie viele Ressourcen müssen aufgewendet werden, um ein Altersversorgungssystem aufzubauen für eine Gesellschaft, deren produktive Jahrgänge als Ergebnis der Ein-Kind-Ehe ausgedünnt sind? Das wird die Chinesen erhebliche Ressourcen kosten. Weshalb ich zu dem Ergebnis komme: Der lineare Aufstieg Chinas wird sich so wie bisher nicht fortsetzen. Er wird zwar im Trend anhalten, aber wie wir übereinstimmend schon feststellten: Die zunehmenden Einkommensverzerrungen, die Disparitäten zwischen dem Hinterland und dem Küstenstreifen, die Agglomerationsprobleme – allein die Metropole Chongqing zählt fast dreißig Millionen Einwohner –, das alles sind limitierende Faktoren, mit denen sich die chinesische Führung beschäftigen muss. Das Hauptproblem sehe ich freilich in der Überalterung. Es gibt ein geflügeltes Wort: China wird alt, bevor es reich wird.
Schmidt: Auf der anderen Seite darf man die Frage aufwerfen, ob es nicht möglicherweise für die Welt von Bedeutung ist, dass China die Ein-Kind-Politik einführte. Angesichts der Übervölkerung des Erdballs ist jeder Versuch, das Bevölkerungswachstum zu dämpfen, im Prinzip des Nachdenkens wert. Wenn ich es richtig sehe, hat außer China kein anderer Staat entsprechende Schritte unternommen. Die Inder haben es unter Indira Gandhi ein paar Jahre lang versucht – übrigens mit den brutalsten Methoden, die man sich vorstellen kann – und dann aufgegeben. Das heißt aber nicht, dass wir nicht möglicherweise allesamt uns die Frage vorlegen müssen, ob die Welt neun Milliarden Menschen ertragen kann.
Steinbrück: Für das Bevölkerungswachstum gibt es zwei Schlüsselgrößen. Die eine ist die Alphabetisierung, die andere die Emanzipation der Frau. Dort, wo die Alphabetisierung am schnellsten voranschreitet und die Frauen sich zunehmend aus patriarchalischen Verhältnissen befreien, nimmt die Geburtenrate ab. Das lässt sich insbesondere im arabischen Raum erkennen; wo die jungen Frauen nicht durch den Familienvorstand in die klassische Cousinen-Ehe hineingetrieben werden, gibt es weniger Kinder. Es ist allerdings sehr schwer, dies politisch zu beeinflussen, und auch durch internationale Konferenzen hat sich auf diesem Gebiet bisher nur wenig ausrichten lassen. Als Europäer müssen wir aber ein massives Interesse daran haben, dass sich insbesondere bei den arabischen Nachbarn rund um das Mittelmeer der Prozess der Alphabetisierung und der Gleichberechtigung von Frauen fortsetzt, weil nur so dem Bevölkerungsdruck nachhaltig entgegengewirkt werden kann. Andernfalls werden wir es zu tun bekommen mit einer deklassierten und deshalb auch aggressiv gestimmten jüngeren Generation, die von Europa fernzuhalten erhebliche Anstrengungen kosten wird.
Ich will noch einmal zu unserer Ausgangsfrage zurück. Der britische Historiker Niall Ferguson hat zu zeigen versucht, dass das, was wir heute erleben, das Ende einer fünfhundertjährigen Vorherrschaft des Westens bedeutet. Was für uns das Ende unserer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Hegemonie bedeute, sei aus Sicht der Chinesen nur die Rückkehr zur Normalität, schließlich war China über Jahrhunderte, etwa bis an die Schwelle, die wir in Europa als
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