Zug um Zug
geschichtlichen Tradition überhaupt keine Rolle, weder bei Konfuzius noch bei Menzius, noch bei Laotse. Damit komme ich auf Ihre Frage zurück, ob bei steigendem Wohlstand die Chinesen sich an europäischen Grundrechten orientieren werden. Ich halte eine solche Entwicklung nicht für sehr wahrscheinlich. Am ehesten wird es – vielleicht theoretisch – für das Prinzip des Sozialstaates und möglicherweise des Rechtsstaates gelten.
Ich habe jedenfalls große Zweifel, ob es zu rechtfertigen ist, dass der Westen – also die Europäer und die Nordamerikaner – die Aufgabe hat, das Prinzip der Demokratie und das Prinzip der Menschenrechte über den ganzen Erdball zu verbreiten. Gucken Sie sich die indische Kastengesellschaft an. Indien ist heute zweifellos ein Rechtsstaat und auch eine Demokratie – übrigens dank der englischen Kolonialmacht. Aber nach wie vor können Sie nicht von einer Kaste in die andere heiraten. Das ist jahrhundertealte Tradition: Sie sind als Paria geboren, und das bleiben Sie, oder Sie sind als Brahmane geboren, und das bleiben Sie. Ähnlich fest gefügt sind die chinesischen Traditionen. – Es kommt noch etwas hinzu: Die Rechte der Person, auf die man sich im Westen heute so gern beruft, sind eine Erfindung der letzten zweihundert Jahre. Hernando Cortez oder Francisco Pizarro oder die anderen Schlächter, die von den Spaniern und Portugiesen nach Lateinamerika und nach Mexiko geschickt wurden, hatten nicht die Aufgabe, die Menschenrechte zu vertreten; sie hatten die Aufgabe, unter dem Banner des Christentums Kolonien zu errichten. Das Prinzip der Menschenrechte kommt in der ganzen christlichen Theologie überhaupt nicht vor bis ins 20. Jahrhundert. Es ist ein Instrument geworden, eine Badehose, die verbirgt, was verborgen werden soll, nämlich den Expansionsdrang der westlichen Macht.
Steinbrück: Ganz so zynisch sehe ich das nicht, aber ich gebe zu, dass viele Interventionen des Westens mit klaren politischen und ökonomischen Interessen verbunden gewesen sind. Aber dass die Idee der Menschenrechte überhaupt auftauchte, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – wir sprechen ja nicht zufällig vom Zeitalter der Aufklärung –, ist das nicht auch in Ihren Augen ein großer Gewinn?
Schmidt: Für uns ist es ein sehr großer Gewinn.
Steinbrück: Für die Chinesen wäre es schon ein großer Gewinn, wenn sie wenigstens das Erbe Maos offen diskutieren könnten. 45 Millionen Tote beim Großen Sprung! 45 Millionen Tote, über die nicht gesprochen werden darf!
Schmidt: Ich glaube, die Zeit wird kommen, aber es wird sehr lange dauern. Noch um 2050 wird Mao dafür gelobt werden, dass er China wiederhergestellt hat, nach anderthalb Jahrhunderten der Demütigung durch die europäischen Kolonialmächte, durch die Amerikaner und insbesondere durch die Japaner. Mao hat China wiederhergestellt: Das wird im Bewusstsein bleiben. Gleichzeitig werden seine Fehler öffentlich werden; dazu gehört nicht nur der »Große Sprung nach vorn«, dazu gehört insbesondere die ekelhafte Kulturrevolution, die heute ebenfalls totgeschwiegen wird. Aber wie auch immer das Bild Maos sich verändern wird: In der Mitte des Jahrhunderts könnte im Bewusstsein der Welt Deng Xiaoping als der erfolgreichste Kommunist der Geschichte dastehen – und nicht Mao.
Steinbrück: Nein, ich glaube, dass Mao als Ikone seinen Stellenwert behalten wird. Aber ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, dass es sehr lange dauern wird, bis die Menschenopfer des Großen Sprungs und der Kulturrevolution zum Gegenstand einer das Land aufwühlenden Vergangenheitsbewältigung werden. Ich erinnere daran, wie lange es in den offenen Gesellschaften Westeuropas gedauert hat, bis eine solche Vergangenheitsbewältigung in die Gänge kam. In Deutschland hat es nach den Verbrechen des Nationalsozialismus zwanzig Jahre und mehr gedauert; in Frankreich ist die Auseinandersetzung mit dem Thema Kollaboration erst vor einigen Jahren und nur unter heftigen Kämpfen angenommen worden; in der Türkei ist der Völkermord an den Armeniern bis heute weitgehend tabuisiert.
Schmidt: In Deutschland hat es länger gedauert als zwanzig Jahre. Bis Richard Weizsäcker für seine große Rede Gehör fand, vergingen vierzig Jahre.
Steinbrück: Ich beziehe mich auf die Auschwitz-Prozesse Mitte der sechziger Jahre; damals fing meine Generation an, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Was ich sagen wollte: Als Ikone, als
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