Zug um Zug
Gegenfrage: Reisen Sie eigentlich genug, Peer?
Steinbrück: Nein, im Augenblick zu wenig. Meine jüngsten Auslandsreisen – und damit auch meine unmittelbaren Kenntnisse der aktuellen Entwicklungen in anderen Ländern – haben sich nach meinem Ausscheiden aus der Regierung auf den europäischen Nahbereich beschränkt. Ich vermisse die Infrastruktur, die solche mehrtägigen Fernreisen organisiert. Aber ich habe mir fest vorgenommen, im nächsten Jahr mindestens nach China und Japan zu reisen und auch wieder in die USA. Mein größtes Defizit liegt bei den lateinamerikanischen Staaten, und auch das möchte ich so bald als möglich korrigieren. Ich glaube nämlich, dass Lateinamerika durch seine wachsende ökonomische Kraft auch an politischem Gewicht zunehmen wird. Lateinamerika wird jedenfalls erkennbar an Bedeutung gewinnen, was sich schon heute in einem gewachsenen politischen Selbstbewusstsein niederschlägt. Ich denke zum Beispiel an Lula da Silva, den früheren Präsidenten Brasiliens, den ich mehrere Male auf internationalen Finanzgipfeln erlebt habe – eine beeindruckende Persönlichkeit. Er wurde sehr stark, ich will nicht sagen hofiert, aber doch sehr stark beachtet, und zwar sowohl von den Amerikanern als auch von den Chinesen. Und man hatte den Eindruck, dass er sich der Tatsache bewusst war, von diesen beiden Mächten als ein gewichtiger politischer Faktor wahrgenommen zu werden.
Schmidt: Er ist aber auch ein toller Kerl! Im Dezember 2009 hat er mir im Rahmen seiner Europareise hier in Hamburg ziemlich spontan einen Besuch gemacht. Ich war einigermaßen überrascht. Aber dann hat er mir eine Geschichte erzählt, die dreißig Jahre zurücklag und die ich total vergessen hatte. 1979 machte ich als erster Regierungschef der Bundesrepublik einen offiziellen Besuch in Brasilien. Kurz zuvor hatte ich die brasilianische Regierung wissen lassen, dass ich leider den Besuch absagen müsse, denn sie hätten den Gewerkschaftsführer Inácio Lula ins Gefängnis gesperrt; den müssten sie rauslassen, da ich ihn sprechen wolle. Die Regierung in Brasilia hat dem umgehend nachgegeben. Lula hatte das nicht vergessen – und 2009, gegen Ende seiner Amtszeit, kam er, um sich bei mir zu bedanken. Solche Geschichten habe ich im Laufe des Lebens immer wieder erlebt.
Steinbrück: Wenn Sie erlauben, Helmut, will ich an dieser Stelle einschieben, dass es heute an einem internationalen Verbund linksdemokratischer Parteien fehlt, der sich gegen Diktaturen, Verfolgungen oder Beschädigungen durch einen kruden Kapitalismus stellt. Ich denke da an den Einfluss und die Präsenz der »Sozialistischen Internationale« in den siebziger und achtziger Jahren. Da haben Leute wie Brandt, Kreisky und Palme das Gesicht der internationalen Sozialdemokratie geprägt. Damals wurde in einer Art grenzüberschreitendem Ideenwettbewerb um das beste Modell für eine neue Gesellschaft gerungen. Und zugleich handfeste Politik gemacht und den Freiheitsbewegungen in Ländern wie Portugal, Spanien und Griechenland zum Sieg verholfen.
Schmidt: Jetzt singen wir gleich die Internationale! Nein, es tut mir leid, ich habe Einrichtungen wie die Sozialistische Internationale immer für überflüssig gehalten. Allerdings hätte ich gar nichts dagegen, wenn sich die Sozialdemokraten im Europäischen Parlament untereinander etwas besser abstimmten –
Steinbrück: So wie die Konservativen in der EVP. Aber lassen Sie uns einen Moment bei der Frage bleiben, wie die westlichen Demokratien mit Unterdrückung durch Diktaturen umgehen sollen. Lateinamerika scheint mir ein gutes Beispiel. Noch vor zwanzig Jahren reihte sich da Militärdiktatur an Militärdiktatur, das ist heute anders, aber wie sich die einzelnen Staaten entwickeln werden, ist schwer einzuschätzen. Ich habe zwar den Eindruck, dass mit wachsendem ökonomischen Erfolg und Wohlstandsgewinn auch für breitere Schichten die Zeiten von Militärputschen und anschließenden Militärdiktaturen der Vergangenheit angehören könnten, aber mir fehlt die historische Kenntnis, und ganz ausgeschlossen erscheinen mir solche Rückfälle wiederum nicht. Meine Frage lautet: Wie geht man mit Militärdiktatoren, mit Despoten im Allgemeinen um, und wie verhält man sich, wenn diejenigen, die man viele Jahre hofiert hat, eines Tages von ihrem eigenen Volk vertrieben werden? Können wir heute schon ermessen, was da in einigen arabischen Ländern entlang der Mittelmeerküste passiert? Sie haben von
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