Zug um Zug
Ägypten und Äthiopien. Darüber hinaus gibt es höchstens zwei weitere islamisch geprägte Staaten, deren Grenzen historische Legitimität beanspruchen können: den Iran und die Türkei.
Steinbrück: Ich glaube, auch Afghanistan.
Schmidt: Da bin ich im Zweifel, denn die afghanische Außengrenze ist erst durch die Kolonialmacht gegen Ende des 19. Jahrhunderts willkürlich gezogen worden.
Steinbrück: Jedenfalls ist überall im Westen die Freude groß über die Aufstandsbewegungen im arabischen Raum. Nur in einem Land wird diese Freude überhaupt nicht geteilt, das ist Israel. In Israel, im Gegenteil, macht man sich Sorgen. Als Israeli würde ich versuchen, diesen, wie es so schön heißt, »arabischen Frühling« als Chance zu begreifen. Nach meiner Wahrnehmung bedeutet der Aufstand – übrigens unter Beteiligung bemerkenswert vieler Frauen, wie die Fernsehbilder von Demonstrationen zeigen – keineswegs, dass ein westliches Demokratie- und Gesellschaftsmuster übernommen wird. Vielmehr erwächst die Bewegung aus der hochgradigen Frustration und Empörung über autokratische Systeme mit Selbstbedienungscharakter und die eigene Macht- und Chancenlosigkeit, insbesondere der jüngeren Generationen. Und sie geht zurück auf den demographischen Druck und einen höheren Alphabetisierungsgrad. Das sollten wir in Europa richtig einschätzen, um nicht falsche Schlussfolgerungen zu ziehen.
Schmidt: Ich stimme zu. Dabei geht vieles – Sie haben’s angedeutet, aber ich möchte es noch einmal eigens erwähnen – zurück auf die jahrhundertelange Unterdrückung der Frauen. In Saudi-Arabien darf eine Frau noch heute nicht am Steuer eines Autos sitzen.
Steinbrück: Der Nahe Osten ist ein einziges Pulverfass, und wenn es nicht zu einer größeren Offenheit der israelischen Politik gegenüber diesen Veränderungen in der arabischen Welt kommt, wird die Gefahr, dass es explodiert, immer größer werden. Ich sage das aus tief empfundener Anteilnahme an der schwierigen Situation Israels.
Schmidt: Ich will dazu nur sagen, dass ich seit einigen Jahrzehnten keine langfristige Strategie des israelischen Staates erkennen kann.
Steinbrück: Ich war enttäuscht über den Auftritt des israelischen Ministerpräsidenten in den USA. Seine groß angekündigte Rede im Kongress, für die er schon im Vorfeld gefeiert worden war, habe ich als eine Distanzierung gegenüber jeglicher Öffnungspolitik empfunden.
Schmidt: Eine Rede, die im Ton und im Inhalt absolut unfreundlich war gegenüber dem Gastgeber, nämlich dem amerikanischen Präsidenten.
Steinbrück: Ja, Netanjahu ließ Obama quasi als dummen Jungen dastehen. Nur die eindeutig pro-israelischen Kräfte empfanden die Rede als eine Bestätigung. Aber ich glaube nicht, dass diese Politik hilfreich ist; jedenfalls dient sie nicht den israelischen Interessen. Was mich bei Besuchen in Israel immer wieder verwundert, ist die Tatsache, dass in Gesprächen durchaus große Aufgeschlossenheit herrscht und ein klares Bewusstsein darüber besteht, dass Israel bei einer weiteren Verharschung der Verhältnisse in Schwierigkeiten kommen könnte. Aber in der Politik und in den Debatten der Knesseth finde ich das nicht widergespiegelt. Ich frage mich, wann endlich eine große liberal aufgestellte politische Kraft in Israel versucht, die abwägenden Stimmen der Vernunft zu sammeln und politisch zur Geltung zu bringen.
Schmidt: Es hat drei weltpolitisch begabte und außerdem kenntnisreiche und urteilsfähige Personen gegeben, die einen Frieden zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn hätten herbeiführen können. Der Erste war gar nicht israelischer Staatsbürger, das war Nahum Goldmann. Der Zweite war Moshe Dayan, der ist leider früh gestorben, und der Dritte war Jitzchak Rabin, der wurde ermordet. Seit dem Tod dieser drei haben die Israelis keine langfristige Strategie, die auf einen Friedensschluss abzielte, entwickeln können.
Steinbrück: Und ich sehe gegenwärtig auch keine Ansatzpunkte. Die Siedlungspolitik wird unverändert fortgesetzt, die Isolierung des Gazastreifens wird mit kriegerischen Mitteln betrieben. Natürlich kann ich verstehen, dass die Israelis sich gegen Übergriffe der Hamas und anderer palästinensischer Kräfte zur Wehr setzen, nur ist das alles so perspektivlos. Und es steht im Widerspruch zu den langfristigen Interessen des Staates Israel. Warum erheben sich in Israel kaum politische Stimmen, die versuchen, einen
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