Zug um Zug
Bruttosozialproduktes wie 2008 – das werden wir bei den in Rede stehenden Wachstumsraten wahrscheinlich nächstes Jahr erreichen –, und auch mit Blick auf die Einnahmen der öffentlichen Haushalte, ganz wichtig, sind wir meines Wissens ebenfalls noch nicht ganz wieder auf dem Niveau von 2008. In diesen beiden Punkten liege ich mit meiner Prognose, dass es – gerechnet ab Herbst 2008 – mindestens drei bis vier Jahre dauern dürfte, um die Vorkrisenniveaus zu erreichen, also nicht ganz falsch. Aber ich stimme Ihnen zu, man kann sich nur darüber freuen, dass wir eine bemerkenswert positive Entwicklung 2010/2011 verzeichnen, die Deutschland im europäischen Umfeld fast wie Alice im Wunderland erscheinen lässt. Denn wer will so unverantwortlich sein, schlechte Zahlen herbeizureden, nur um seine eigene Prognose zu bestätigen? Meine Einschätzung allerdings, dass eine Krise wie 2008/2009 eine längere Phase der Nachwirkungen mit eventuell weiteren Beben nach sich zieht, hat sich über Deutschland hinaus leider bewahrheitet.
Schmidt: Ich will Ihnen sagen, warum ich deutlich positiver gestimmt war. Für mich gibt es zwei verschiedene Gruppen von Faktoren, langfristige und kurzfristige. Faktoren, die eine lange Vorgeschichte haben, sind zum Beispiel das System der Betriebsräte und der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten – eingeführt in der Mitte der siebziger Jahre. Zum Beispiel die Einheitsgewerkschaften. Zum Beispiel das Kurzarbeitergeld. Zu den kurzfristigen Faktoren gehört – das ist die Leistung von Olaf Scholz –, in der Krise das Kurzarbeitergeld so verlängert zu haben, dass die Leute nicht arbeitslos wurden. Spielt eine Riesenrolle für den ökonomischen Aufschwung der letzten zwölf Monate, ist beinahe untergegangen im öffentlichen Bewusstsein. Zu den kurzfristigen oder meinetwegen auch mittelfristigen Faktoren gehört die viel größere Beweglichkeit der Manager an der Spitze deutscher mittelständischer Unternehmen. Die Verantwortlichen des gewerblichen Mittelstandes haben sich viel besser benommen als beispielsweise die von Weltkonzernen wie General Motors, sprich: Opel.
Steinbrück: Der deutsche gewerbliche Mittelstand spielt eine enorme Rolle, und das ist fast ein deutsches Alleinstellungsmerkmal. Eine Rolle spielt aber auch, dass einige deutsche Großunternehmen in den letzten zehn Jahren ihre Bilanzen geordnet und sich auf der Kapitalseite verbessert haben. Ganz wichtig scheint mir zu sein, dass Deutschland nach wie vor eine breitere industrielle Basis hat als andere Länder. Nach wie vor trägt das produzierende Gewerbe ungefähr 23, 24 Prozent zum deutschen Bruttosozialprodukt bei, in Großbritannien sind es 14 Prozent, in den USA 15 Prozent und in Frankreich 11 Prozent. Und auf diesen industriellen Karren setzen sich noch viele produktionsorientierte Dienstleistungen obendrauf. Das scheint mir von enormer Bedeutung zu sein, weshalb ich immer dafür eintreten würde, diese industriellen Kernkompetenzen in Deutschland weiterzuentwickeln. Das hat auch viel mit Technologie zu tun. Wir dürfen das nicht aufgeben, wir dürfen nicht jene Entwicklung zur Deindustrialisierung nachvollziehen, die schon viele Länder mit einem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit bezahlt haben.
Die Mitbestimmung und die Einheitsgewerkschaften habe ich immer im Sinne des Arbeitsfriedens und der sozialen Stabilität für einen Standortvorteil gehalten. Die moderaten Tarifabschlüsse mit dem Wettbewerbsvorteil fast stabiler, also im internationalen Vergleich sinkender Lohnstückkosten sind aber ein janusköpfiges Phänomen – denn auf der anderen Seite der gestiegenen Wettbewerbsfähigkeit steht, dass die Realeinkommen vieler Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stagnieren oder sogar abnehmen. Darüber kommen wir zu Verteilungsfragen und einer schwächelnden Binnennachfrage mangels Kaufkraft.
Dann hat sich in der Krise bewährt, dass wir ein dreisäuliges Kreditwesen haben mit Genossenschaftsbanken, Sparkassen und privaten Geschäftsbanken. Eine beherrschende Frage, die mich als Finanzminister im Frühjahr 2009 erreichte, war, ob es zu einer Kreditklemme kommen könnte bei der Finanzierung des deutschen Mittelstandes. Dieser Fall ist deshalb nicht eingetreten, weil Sparkassen und insbesondere Genossenschaftsbanken die Finanzierung aufrechterhielten in dieser Zeit. Das war von entscheidender Bedeutung.
Schmidt: Dick unterstreichen!
Steinbrück: Zu den Faktoren, warum
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