Zug um Zug
Zeit fühlt er sich nicht mehr aufgehoben in Paris und in Berlin, und das prägt auch seine persönliche Situation.
Schmidt: Er selber hat, wie mir scheint, bisher keine gravierenden Fehler gemacht.
Steinbrück: Im Grunde hat Juncker seine prägende Rolle und seinen Einfluss eingebüßt, als er nicht EU-Ratspräsident wurde. Und wer hat das verhindert? Das sind kapitale Fehlentscheidungen. Es ist jemand zum Ständigen Ratspräsidenten gemacht worden, der eine integre Figur ist, Herr Van Rompuy, aber es fehlt ihm die Reputation, die Gravitas und auch die außereuropäische Vernetzung von Jean-Claude Juncker. Und es ist jemand zur Hohen Beauftragten für Außen- und Sicherheitspolitik gemacht worden, über die man heute Mühe hat die Höflichkeit zu wahren, Mrs Ashton. Es hätte selbstverständlich Jean-Claude Juncker zum Ständigen Ratspräsidenten gemacht werden müssen. Und wer hätte der Hohe Vertreter für europäische Außen- und Sicherheitspolitik werden müssen auf dem Ticket einer linksdemokratischen Partei? Frank-Walter Steinmeier! Aber Frau Merkel hatte nicht die Souveränität, Steinmeier zu präsentieren, sondern hat eine britische Labour-Abgeordnete akzeptiert. Und Sarkozy wollte Jean-Claude Juncker nicht als Ständigen Präsidenten, nach dem Motto: Mit dem Belgier komme ich besser klar, das wird für mich einfacher. Das sind Fehlentscheidungen jenes Duos, das in Deutschland und Frankreich die Musik macht.
Schmidt: Ich will mal einen Satz aus Ihrem Buch Unterm Strich zitieren. »Die Schwäche der Europäischen Union steht in merkwürdigem Gegensatz zur Stärke Deutschlands … Die Zusammenhänge sind äußerst kompliziert, ihre Interpretation führt insbesondere zwischen Berlin und Paris immer häufiger zu heftigem Streit.« Ich habe mich gefragt, ob das so bleiben muss.
Steinbrück: Der nüchterne Sachverhalt ist, dass Frankreich größere Probleme mit seinen Staatsfinanzen hat als wir. Seine industrielle Basis ist geschrumpft, es verliert auf den Weltmärkten Wettbewerbsfähigkeit und damit Anteile. Daraus ergibt sich eine gewisse Interessendivergenz, die manchmal zu Spannungen führt, und die schlagen gelegentlich politisch durch. Madame Lagarde, die ehemalige französische Finanzministerin, ist eine bewunderungswürdige Grande Dame mit viel Selbstironie und angloamerikanischem Humor, aber ihre Vorstellung, die Deutschen könnten eine Art Sabbatical in ihren Exportaktivitäten entwickeln, um Leistungsbilanzdefizite innerhalb Europas auszugleichen, hat sie wahrscheinlich selber nicht ganz ernst genommen. Darin spiegelt sich die französische Befürchtung wider, dass Deutschland mit seiner enormen Exportstärke – und seinen Leistungsbilanzüberschüssen speziell auch im bilateralen Verhältnis zu Frankreich – in Kollision gerät mit französischen Interessen. Das ist übrigens auch in der Politik von Präsident Sarkozy gelegentlich zu spüren.
Schmidt: Die beiden Personen in Paris und Berlin spielen natürlich eine Rolle bei der Antwort auf meine Frage.
Steinbrück: Ja, wobei ich eher auf dem Standpunkt stehe: Es kann nicht sein, dass das deutsch-französische Verhältnis ausschließlich oder vornehmlich von der persönlichen Befindlichkeit und den Mentalitäten des deutschen Kanzlers oder der deutschen Kanzlerin und des französischen Staatspräsidenten abhängig ist.
Schmidt: Hoffentlich nein, tatsächlich aber zu einem ganz großen Teil ja. Wir Deutschen dürfen nicht vergessen, dass die Franzosen zusammen mit den Polen unsere wichtigsten Nachbarn sind.
Steinbrück: Aber es kann nicht immer so glücklich zugehen wie zwischen Giscard und Ihnen oder auch zwischen Kohl und François Mitterrand, wobei ich mal unterstelle, dass in beiden Fällen die Mentalitätsunterschiede auch nicht gerade gering gewesen sind.
* * *
Schmidt: In Ihrem Buch, Peer, das vor knapp einem Jahr erschienen ist, haben Sie die mittelfristige ökonomische Entwicklung in Deutschland sehr düster gesehen und von abflachenden, ja von negativen Wachstumsraten gesprochen. Auch in diesem Punkt waren Sie nach meinem Urteil damals etwas zu pessimistisch; ich habe Ihnen das auch gesagt. Die Entwicklung hat uns erfreulicherweise vom Gegenteil überzeugt.
Steinbrück: Ja, ich bin, dem Himmel sei Dank, korrigiert worden in dieser Perspektive und will meine Fehleinschätzung jetzt auch gar nicht relativieren. Trotzdem! Wir sind meines Wissens immer noch nicht auf demselben Niveau des
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