Zug um Zug
unter strikten Auflagen, sich zu reformieren und zu restrukturieren, abgegeben, dann wäre uns vieles erspart geblieben, bis auf den heutigen Tag.
Schmidt: Die Fehler, die Sie vorhin aufgezählt haben auf der Seite von Frau Merkel, bringen mich zu der Frage: Mit wem berät sie sich eigentlich? Sie hat offenbar keine adäquaten, gleichgewichtigen Gesprächspartner.
Steinbrück: Ich würde mir wünschen, dass sie sich mit Herrn Schäuble berät, den ich als einen der wenigen standfesten Europäer in diesem Kabinett sehe.
Schmidt: Haben Sie das Gefühl, Peer, dass sie sich mit Schäuble nur dann trifft, wenn es notwendig und unvermeidlich ist?
Steinbrück: Ich habe sogar das Gefühl, dass sie gelegentliche Vorstöße von Schäuble eher wieder zurückgenommen hat auf der Ebene der europäischen Staats- und Regierungschefs. Schäuble war früh mit einigen Vorschlägen aufgetreten, die in Vergessenheit geraten sind, zum Beispiel mit dem Vorschlag eines europäischen Währungsfonds oder mit der Forderung, dass eine Gläubigerhaftung durchgesetzt werden müsse. Das eine oder andere Treffen von Frau Merkel mit Herrn Sarkozy schien Schäubles Positionen geradezu infrage zu stellen, ehe der Europäische Rat am 21. Juli 2011 Beschlüsse fasste, die viel Ähnlichkeit mit seinen bereits früher entwickelten Vorstellungen haben. Ob diese Beschlüsse ausreichen, steht auf einem anderen Blatt. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Europäische Union nicht von ihren schwächsten Gliedern her gefährdet ist, sondern von ihren stärksten Gliedern, weil sich dort – auch vor dem Hintergrund des Boulevards und seiner populistisch kleinkarierten nationalen Interessenbekundung – eine aggressive Antistimmung verbreiten könnte, die darauf hinausläuft zu sagen: Da machen wir nicht mehr mit. Deshalb halte ich es für unverantwortlich, was da teilweise ins Feuer gelegt wird, um diesen Stimmungen Raum zu geben – und zwar mit klarem Blick auf Meinungsumfragen und Landtagswahlen. Es fällt allerdings positiv auf, dass sich dies in jüngster Zeit geändert hat – jedenfalls, was die Kanzlerin betrifft.
Schmidt: Es kommt letzten Endes doch auf Personen an, auf Führungspersonen, zum Beispiel in Paris, zum Beispiel in Berlin, vielleicht auch in Brüssel. Hier sehe ich mit etwas optimistischerem Blick in die weitere Zukunft. Allerdings bin ich leider der Meinung, dass die Fehler, die in Maastricht gemacht worden sind, nach dreimaligem Korrekturversuch – erstens durch einen Stabilitätsvertrag, zweitens durch eine europäische Verfassung, drittens durch den Lissabonner Vertrag – nicht mehr leicht korrigiert werden können. Ich halte es für wahrscheinlich, dass die Umstände nicht de jure, wohl aber de facto, also nicht in Vertragsform und nicht in Verfassungsform, aber de facto dazu führen werden, dass Paris und Berlin und ein paar andere wie zum Beispiel Den Haag und hoffentlich auch Warschau und möglicherweise sogar Rom zusammenwirken. Das ist jedenfalls meine Hoffnung. Die Möglichkeit, ein viertes Mal einen Vertrag zu schmieden, halte ich für ganz unwahrscheinlich.
Steinbrück: Deshalb wird es auch so schnell weder einen europäischen Finanzminister geben, wie Trichet ihn vorgeschlagen hat, noch eine sogenannte Wirtschaftsregierung. So wünschenswert solche Institutionen sein mögen, so sträflich wird unterschlagen, dass dies eine Änderung der europäischen Verträge voraussetzen würde. Zu einem solchen Kraftakt sehe ich weder die EU in der Lage, noch vermag ich die Bereitschaft einzelner Mitgliedstaaten zu erkennen, solchen Änderungen parlamentarisch oder sogar über Volksabstimmungen zuzustimmen. Fortschritte wird es nur auf dem Weg der multilateralen Verabredung zwischen Staats- und Regierungschefs geben.
Schmidt: Das De-facto-Handeln ist entscheidend.
Steinbrück: Ja, tatsächliche Vereinbarungen der Staats- und Regierungschefs, die dann aber auch schnell umgesetzt werden müssen, dürften insbesondere in Krisensituationen zielführender sein als Initiativen, die einer langen europarechtlichen Umsetzung bedürfen. Ein Punkt gewinnt dabei allerdings an Bedeutung: die Beteiligung der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlamentes. Die Handlungsfähigkeit hängt sehr stark von den Führungspersonen ab. Aber auch die politischen Drähte müssen funktionieren. Nehmen Sie zum Beispiel Jean-Claude Juncker, über Jahre ein Garant der europäischen Integration. Seit einiger
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