Zug um Zug
Gesetze regeln. Aber wenn es nicht zu einem neuen Solidarverständnis kommt, wird unsere Gesellschaft weiter auseinanderdriften. Ich sehe große Gefahren mit Blick auf das, was ich die gesellschaftlichen Fliehkräfte nenne.
Schmidt: Das fängt bei den Vorständen an. In jedem DAX-Unternehmen gibt es ein Vorstandsmitglied, dessen Aufgabe die Vermeidung von Körperschaftsteuern ist. Eine zweite Aufgabe ist die Vermeidung von Gewerbesteuer.
Steinbrück: Auf der anderen Seite glaube ich, dass weite Teile der Bürgerschaft bereit sind, ihre persönlichen Interessen zurückzustellen und für ein Gesamtwohl oder für ein Kollektiv etwas zu erbringen, auch wenn es mit Lasten verbunden ist. Aber dazu ist zweierlei nötig: Der Bürger will erstens eine Erklärungsinstanz, die ihm einigermaßen stimmig vermitteln kann, was weshalb und wozu erforderlich ist. Jede Reform, die in Gewohnheiten und Besitzstände einbricht, und jede Verpflichtung auf eine kollektive Kraftanstrengung – zum Beispiel für Europa – bedarf einer intensiven kommunikativen Vorbereitung. Man muss eine Erzählung entwickeln, die auch emotional packend ist. Sie muss jedenfalls faszinieren. Sie darf sich nicht erschöpfen in Zahlen oder Begriffen, die keiner mehr hören will. Zweitens will der Bürger einen Nachweis, dass die Lasten oder Einschränkungen fair verteilt werden, er also nicht der Dumme ist und »die da oben« ihr Schäfchen wieder ins Trockene gebracht haben.
Schmidt: Ich stimme der Notwendigkeit einer intensiven Vorbereitung der öffentlichen Meinung durchaus zu. Ich will aber hinzufügen: Eine Regierung muss es auf sich nehmen, das, was sie als notwendig erkannt hat, in die Tat umzusetzen, auch wenn es kurzzeitig für sie keine Vorteile, vielleicht sogar Nachteile mit sich bringt. Wenn sie etwas Notwendiges begriffen hat und wenn sie den Willen hat, das Notwendige auch wirklich zu machen, dann muss sie selbst das Risiko laufen, abgewählt zu werden.
Ich will in diesem Zusammenhang etwas loswerden, was mir seit längerem Sorgen bereitet: die Rolle des Bundesverfassungsgerichts im Prozess der politischen Entscheidungsfindung. Egal, wer in Berlin gerade auf der Regierungsbank sitzt, alle schielen unentwegt nach Karlsruhe, und das Bundesverfassungsgericht ist darüber ein bisschen sehr selbstbewusst geworden. Inzwischen ist dem Verfassungsgericht durchaus zuzutrauen, dass es auch in das De-facto-Handeln eingreift. Es ist deshalb zu hoffen, dass das Prinzip der europäischen Integration selbst ins Unterbewusstsein der Verfassungsrichter in Karlsruhe eindringt, aber das dauert seine Zeit.
Steinbrück: Dieses Fremdeln des Bundesverfassungsgerichts mit der europäischen Integration stößt auch mir auf. Aber das Verfassungsgerichtsurteil zum Lissabon-Vertrag hat noch eine ganz andere innenpolitische Problematik aufgeworfen. Es hat die Beteiligungs- und Mitspracherechte des Deutschen Bundestages deutlich verstärkt. Das Problem ist, dass die Exekutive in Gestalt der Bundesregierung diesen Mitwirkungsrechten des Deutschen Bundestages häufig nicht entspricht – und zwar nicht nur aus der Sicht eines Oppositionspolitikers, sondern auch aus der Sicht des Bundestagspräsidenten Lammert, der dies mehrfach öffentlich angemahnt hat. Es könnte sein, dass eine enttäuschte, in ihren Rechten eingeschränkte Opposition erneut zum Bundesverfassungsgericht geht, um diese aus dem letzten Bundesverfassungsgerichtsurteil resultierende Beteiligung einzuklagen. Dabei will ich den Spannungsbogen nicht unterschätzen, der daraus resultiert, dass eine Bundesregierung in akuten Notsituationen natürlich in den europäischen Gremien handlungsfähig sein muss und nicht auf ein längeres parlamentarisches Beteiligungsverfahren in Deutschland verweisen kann.
Schmidt: Sie haben vorhin von der Notwendigkeit einer öffentlichen Moral gesprochen. Einige der deutschen Verfassungsrichter geben leider ein schlechtes Beispiel. Sie haben sich angewöhnt, über Materien, die morgen durchaus auf ihren Richtertisch kommen könnten, zum Beispiel an Universitäten große wissenschaftliche Vorträge zu halten und zu erklären, wie sie diese Materie beurteilen. Diese Gewohnheit von Verfassungsrichtern fängt an, mir Sorgen zu machen – wenn ich zum Beispiel sehe, wie sie sich anmaßen, den Prozess der europäischen Integration durch Kanalisierungsvorschläge einzuengen. Mein Paradefall ist Herr Kirchhof. Er hatte 1995 ein Urteil zur Vermögensteuer zu
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