Zugriff
bei der morgendlichen Lagebesprechung gab es ohnehin Kaffee.
Nach und nach trudelten die Kommandoangehörigen ein, und die Räume in den drei Etagen füllten sich. Bis 7.30 Uhr hatten alle da zu sein. Pünktlichkeit war gerade bei einer Spezialeinheit wichtig – schließlich musste man sich aufeinander verlassen können. Wenn keine Sondereinsätze anstanden, waren überwiegend Aus- und Fortbildungsmaßnahmen angesagt: Sport, Nahkampf, Schießen und taktische Täterbekämpfung.
Die linke terroristische Szene galt nach wie vor als Feindbild Nummer eins, doch die heiße Phase des » Deutschen Herbstes« war vorüber, seit sich die führenden Mitglieder der RAF in ihren Zellen in Stuttgart-Stammheim erhängt hatten. Zunehmend verschwendeten wir also weniger Gedanken an die RAF . Mussten wir auch nicht unbedingt, weil sich deren Aktivitäten weitgehend außerhalb Bayerns abspielten. Als junger Polizeikommissar war ich nicht unglücklich darüber – schließlich war keiner erpicht auf einen solchen Einsatz. Wie kaltblütig die Gruppe agierte, bezeugten die vielen Toten, die auf ihr Konto gingen.
Doch dann holte uns die Realität unerwartet ein. Wir wurden angesetzt auf eine der seinerzeit meistgesuchten RAF -Frauen. Es handelte sich um eine knapp 30- Jährige , die ihre Kindheit in einer südamerikanischen Mennonitenkolonie verbracht hatte und seit Jahren im Verdacht stand, die RAF zu unterstützen. Einem Haftbefehl hatte sie sich durch Flucht entzogen. Jetzt gab es Hinweise, dass sie ein Netzwerk von konspirativen Wohnungen aufbauen und zudem Waffen beschaffen sollte. In Bayern.
Allerdings überstürzten die Ereignisse sich nicht gerade. Wir mussten nicht in Minuten parat stehen und mit quietschenden Reifen, Blaulicht und Martinshorn losfahren. Nein, wir erhielten zunächst bloß einen Anruf, ob wir die Nürnberger Kollegen vom SEK Nordbayern bei einer Observierung ablösen könnten. Solche Hilfegesuche waren gang und gäbe, und auch wir nahmen das des Öfteren in Anspruch.
Die routinemäßige Überwachung, um die es sich handelte, lief bereits seit einer Woche. Ein Banküberfall, der an die Vorgehensweise der RAF erinnerte, hatte die Fahnder des Bundeskriminalamts alarmiert, und Hinweise aus der Bevölkerung führten schließlich zu einem fünfstöckigen Wohnblock in der nordbayerischen Metropole. Ein Unterschlupf für Topterroristen, vermuteten die BKA -Leute. » Meier« stand ganz harmlos auf Klingel- und Türschild sowie auf dem Briefkasten. Die Einsatzleitung der Polizei beschloss abzuwarten. Man wollte das Haus observieren, bis sich möglichst viele RAF -Mitglieder in der Wohnung aufhielten. Und dann: Zugriff. Ein klarer Fall für das SEK , aber eben für die Profis aus Nürnberg.
A und O bei solchen Maßnahmen ist es, selbst alles zu sehen, aber nicht gesehen zu werden. Die Kollegen hatten einen Bauwagen besorgt und unauffällig am Straßenrand abgestellt, organisierten sogar Schilder, die vor einer Baustelle warnten. Eigentlich eine gute Idee, wären da nicht die cleveren Kinder der Siedlung gewesen. Denen fiel nämlich schon nach kurzer Zeit auf, dass ständig Leute im Bauwagen hinter den Gardinen der kleinen Fenster lauerten, aber niemand draußen herumwerkelte. » Die haben uns Kinder immer verscheucht«, erzählte ein Junge später.
Sonst passierte nichts. Keine Spur von irgendwelchen Terroristen. Im Bauwagen Frust und Langeweile pur. Nach einer Woche war die Luft raus. Trotzdem mochten die zuständigen Stellen die Observierung nicht abbrechen. Nur mussten frische Kräfte ran, denn die Nürnberger Gruppe war mit allen Mannen mehrfach durch, und pausenloses Beobachten eines Objekts geht einfach ganz gewaltig an die Substanz. Das hört sich einfacher an, als es ist. Jetzt sollten also die Südbayern anrücken, und genau das wurde uns an jenem Morgen mitgeteilt.
Ich war zu diesem Zeitpunkt Leiter einer der vier Einsatzgruppen. Gemeinsam mit meinem Chef, unserem Kommandoführer, den drei anderen Gruppenführern sowie fünf weiteren Kollegen fuhr ich zur Einsatzbesprechung mit anschließender Ortsbesichtigung. Als Erstes entschieden wir uns gegen den Bauwagen, der eine zu unsichere Basis geworden war. Bekanntermaßen entwickeln von der Polizei gesuchte Personen im Laufe der Zeit eine gewisse Antenne, wenn etwas nicht stimmt, und damit mussten wir rechnen. Wenn es schon die Kinder merkten … Stattdessen ließen wir uns im Haus nieder: eine Dreiergruppe in Frau » Meiers« Apartment im ersten Stock, eine
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