Zugriff
geben konnte. Bei aller gebotenen Rücksichtnahme brauchten wir dringend Informationen aus erster Hand.
Wenig später durfte eine weitere Geisel gehen. Diesmal hatten wir mehr Glück, denn die etwa 40-Jährige mit den kurzen blonden Haaren wirkte recht robust und konnte uns hilfreiche Informationen geben. Sie berichtete, dass der Täter seinen Opfern Handschellen anlegte und Mund und Augen mit Klebeband verschloss. Außerdem verteilte er sie auf verschiedene Zimmer, wobei es offenbar teilweise zu sexuellen Übergriffen gekommen war. So wusste die befreite Patientin von zwei Leidensgenossinnen, dass der Täter ihnen an den Busen beziehungsweise in die Hose gefasst hatte. Unsere Befürchtung, dass alles auf eine gewaltsame Lösung hinauslief, wuchs.
Weitere Geiseln gab er nicht frei. Stattdessen kam er auf seine Forderung nach einem Scharfschützen zurück. Was sollten wir tun? Eine Erschießung auf Wunsch war völlig indiskutabel, ein spontaner Zugriff zu risikobehaftet. » Wir müssen abwarten und weiter verhandeln«, so der für den Gesamteinsatz zuständige örtliche Polizeiführer.
Draußen war mittlerweile die Hölle los. Vertreter von Presse, Rundfunk und TV berichteten live über das Geiseldrama. Bombardierten überdies den Geiselnehmer, weil sie ein Exklusivinterview wollten. Das hatte mit seriöser Berichterstattung nichts mehr zu tun, bediente bloß pure Sensationslust – und gefährdete überdies unseren Einsatz.
Der Geiselnehmer reagierte bereits entnervt und verlangte ein zweites Telefon. Was uns nur recht sein sollte, damit wir in Ruhe weiter mit ihm verhandeln konnten. Wir sagten ihm also Unterstützung zu, forderten aber im Gegenzug die Freilassung weiterer Geiseln. Der Mann, dessen Namen wir immer noch nicht kannten, war einverstanden. Ein Technikertrupp rückte an, kappte die Telefonleitung, bereitete die Installation eines Feldtelefons vor und verlegte ein fingerdickes Kabel als Verbindung zur Verhandlungsgruppe. Es lief aus der Praxis durchs Treppenhaus am Boden entlang nach unten. Wir hofften inständig, dass sich die Praxistür künftig schwerer schließen ließ. Etwa bei der Übergabe des Feldtelefons durch einen nahkampferprobten Kollegen mit Ju-Jutsu-Graduierung.
Dann war es so weit. Das Zylinderschloss wurde gedreht, die Tür einen Spalt geöffnet. Eine Hand war zu sehen. Die des Täters? Unser Mann verzögerte die Übergabe des Telefons. » Bitte öffnen Sie die Tür ein bisschen weiter, das Telefon passt nicht durch«, sagte er und sah in diesem Moment einen Mann. Eine Geisel, wie er sogleich erkannte, denn der vermummte Täter stand dahinter, eine Pistole in der Hand. Aus der Traum von einem Zugriff. Unser Nahkampfspezialist übergab das Telefon, die Tür fiel trotz Kabel glatt ins Schloss, und erneut begann das Warten auf eine neue Chance.
Immerhin hielt der Geiselnehmer Wort und ließ eine dritte Person frei: jenen älteren Mann, der das Telefon entgegengenommen hatte. Kreidebleich und körperlich total am Ende torkelte er den Einsatzkräften entgegen. Während er von einem Notarztteam im ersten Stock versorgt wurde, befragten ihn bereits Kriminalbeamte. Jede Mitteilung, jede noch so kleine Beobachtung war jetzt wichtig. Wie verhielt sich der Täter? Bedrohte er seine Opfer ständig mit der Waffe? In welchem körperlichen Zustand befanden sich die Geiseln, und wer waren sie überhaupt? Was bezweckte der Täter? Viele Fragen, mit denen der Mann überfordert schien. Nur mühsam gelang es, ihm Details zu entlocken. Immerhin glaubte der Mann zu wissen, dass der Geiselnehmer in seinem Rucksack ein ganzes Arsenal von Waffen mitführte: Handgranaten, Handschellen, Messer und eine Gaspistole.
Trotzdem traten wir nach wie vor auf der Stelle. Weitere Geiseln, darunter der Zahnarzt und sein Laborant, wurden entlassen. Draußen war es bereits dunkel, in der Praxis brannte Licht. Einige Vorhänge hatte man zugezogen, andere nicht. Eine Möglichkeit für die Präzisionsschützen? Jedenfalls beobachteten sie konzentriert mittels Fernglas oder Zielfernrohr die Geschehnisse auf der gegenüberliegenden Straßenseite, meldeten jede Bewegung in unmittelbarer Nähe der Fenster.
Ich schaute nach meinen Leuten, die auf sechs verschiedene Räume verteilt angespannt hinter ihren Gewehren lagen. Noch war der Rettungsschuss nicht freigegeben, durfte nur erfolgen, falls sich die Hinrichtung einer Geisel abzuzeichnen begann. Ich führte kurze Gespräche mit jedem Einzelnen, denn nach so vielen Stunden kamen
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