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Anders ließ sich die Sicherheit der Geisel nicht mehr gewährleisten, so die übereinstimmende Einschätzung.
Die Lage spitzte sich weiter zu. Erwin K. ließ sein Opfer zum dritten Mal hinknien und drohte mit sofortiger Erschießung. Dann ein Schuss, der wie ein Schrei durch die Isarauen hallte. Der finale Rettungsschuss, gerade noch rechtzeitig. Einer der Präzisionsschützen hatte in Sekundenbruchteilen Notwendigkeit wie Chance erkannt und ergriffen. Hatte geschossen, bevor der andere es tun konnte. Alle sahen, wie Erwin K. einknickte und sein Oberkörper nach hinten fiel. Mit ausgestreckten Armen, die Pistole noch immer in der rechten Hand, lag er reglos auf dem Boden. Der Verhandlungsführer kniete mit gesenktem Kopf im Schnee, die Hände vor den Augen, und bewegte sich nicht.
Der Rest war Routine. Notarzt, Versorgung der Geisel, Durchsuchung des Täters, Sicherstellen der Waffen und anderes mehr. Bei dem Getöteten fand man eine Pistole Kaliber 9 mm, einen Revolver Kaliber 357. Magnum und 100 Schuss Munition. Bei der Obduktion wurde festgestellt, dass der getötete Schäferhund dem Täter erhebliche Bissspuren am rechten Arm beigebracht hatte, sodass dieser seine Pumpgun nicht mehr halten konnte. Zum Glück für unsere Leute, denn sonst wäre womöglich noch mehr passiert.
Eine Rekonstruktion des Tatablaufs durch die Kriminalpolizei ergab, dass der Geiselnehmer 50-mal auf Polizeikräfte schoss, davon etwa 30-mal auf SEK -Männer. Die Polizei hingegen gab während des gesamten Einsatzverlaufs bloß einen einzigen Schuss ab, den entscheidenden allerdings. Weniger eindeutig ließ sich wie so oft eruieren, was die Tat ausgelöst hatte. Von einem Brief seiner Exfrau war die Rede, in der sie Unterhalt forderte. Angeblich rastete er nach Lektüre dieses Schreibens aus, aber wirklich nachvollziehbar war das alles nicht. Sicher hatten mehrere Faktoren zusammengewirkt, wie wir es gerade bei solchen Kurzschlussreaktionen meistens erlebten.
In einer Pressekonferenz der Polizei bedauerte der Einsatzleiter zwar die Tötung des Täters, hob aber zugleich hervor, dass nur dadurch die Geisel gerettet werden konnte. Auch die Staatsanwaltschaft, die in solchen Fällen ermittelt, sah das so. Und was mich betraf, so konnte ich an jenem denkwürdigen Tag mein Referat in Ainring gleich durch zwei neue Anschauungsbeispiele aktualisieren.
Um den Schützen, der zu meiner Einheit gehörte, kümmerte ich mich später selbst. Obwohl alles nach Vorschrift und Gesetz gelaufen war – die Tötung eines Menschen musste verarbeitet werden. Deshalb bot ich ihm sogleich ein Gespräch an. Ob er seine Eltern mitbringen könne, fragte er. » Natürlich«, erwiderte ich, denn Hilfe seitens der Familie war in solchen Fällen unendlich wichtig.
Schon nachmittags saßen wir in meinem Büro zusammen. Wenngleich ich den Hergang lückenlos kannte, ließ ich ihn einfach erzählen. Ich wusste aus eigener Erfahrung, dass Reden gut war für die Seele! Außerdem sicherte ich ihm meine volle Unterstützung zu und sprach ihm, mehr noch, meine Hochachtung aus. » Du hast einer Geisel das Leben gerettet und in einer schwierigen Situation Mut, Reaktionsvermögen und Nervenstärke bewiesen. Du hast alles richtig gemacht.«
Er war in der Tat einer meiner besten Mitarbeiter, und genauso sagte ich es auch den Eltern. Nach dem Gespräch hatte ich das gute Gefühl, dass der junge Mann diesen Einsatz mit Todesfolge verarbeiten würde. Und damit sollte ich recht behalten.
Es gab Einsätze, da fuhren wir zum Tatort und hatten keine Ahnung, worum es eigentlich ging. » Schnell, es pressiert«, hieß es dann nur. » Alles Nähere über Funk.« Dann griffen zwischen 15 und 60 SEK -Männer nach den gepackten Einsatztaschen, rannten in die Waffenkammer und von dort in die Tiefgarage zu den Autos, PS -starken Limousinen, die erst als Polizeifahrzeuge zu erkennen waren, wenn das Blaulicht mit Magnethaftung aufs Dach gesetzt wurde.
So ähnlich verlief es auch bei diesem Fall. Als gegen Mittag der Alarm kam, machten wir uns einfach startklar wie bei einem Ausflug ins Blaue. Zwei Gruppen zu je acht Leuten, dazu vier Führungskräfte, ich und drei andere. Unser Chef hielt sich gerade im Polizeipräsidium auf. Ich rief ihn an, ob er Näheres wisse. » Geduldet euch noch. Sobald ich etwas weiß, melde ich mich.«
Kurz darauf kannten wir zumindest unser Ziel: eine Marktgemeinde, 50 Kilometer südöstlich von München. Dann weitere Details. » Eine bisher unbekannte männliche
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