Zugriff
alle langsam an die Grenzen ihrer psychischen und physischen Stabilität. Bei einer Übung unter Ernstfallbedingungen hielt man das eher aus, doch das hier war bitterer Ernst. Tödlicher Ernst vielleicht. Nachdem ich mit ihnen gesprochen hatte, fühlte ich mich wohler. Und war zuversi chtlich, dass sie im Extremfall Stärke beweisen würden.
In der Befehlsstelle wurden derweil neue Pläne ausgearbeitet. Gemeinsam mit Einsatzleitung und Verhandlungsgruppe überlegten wir das weitere Vorgehen. Da der Täter es ganz offensichtlich darauf anlegte, von einem Scharfschützen erschossen zu werden, wollten wir zum Schein seinem Wunsch entsprechen und draußen einen Panzerwagen mit Schützenstellung vorfahren lassen. Hoffentlich hielt er das für bare Münze. Zudem mussten wir ihm klarmachen, dass eine Gefährdung der Geiseln durch die bevorstehende Schussabgabe nicht akzeptabel sei. Mit anderen Worten: Nur wenn er die anderen freiließ und seinen Rucksack mit den Waffen rausrückte, würden wir seinen Forderungen nachkommen, richteten ihm unsere Verhandlungsprofis über die Standleitung aus.
Er reagierte unsicher, ein wenig unwillig, versuchte die Sache in die Länge zu ziehen, doch schließlich schluckte er den Köder. Sechs weitere Geiseln durften gehen. Den Rucksack gab der Mann, der nicht der Hellste zu sein schien, ihnen mit. Messer, Handschellen und Gaspistole waren echt, bei den Handgranaten und Molotowcocktails handelte es sich um Attrappen. Jetzt waren alle frei bis auf die hübsche 23-jährige Cordula P. mit den langen blonden Haaren. Nein, erklärte der Täter dem Polizeipsychologen, die müsse bei ihm bleiben.
Weil wir jedoch zunehmend um die Sicherheit der Zahnarzthelferin fürchteten, arbeiteten wir weiter mit Hochdruck an einem Befreiungsszenario. Es hatte uns nämlich zusätzlich zu denken gegeben, dass sich in dem Rucksack neben Waffen das Bild einer nackten Frau befand. Dazu die bereits bekannten Berichte über sexuelle Übergriffe … Auch eine Gefährdung in dieser Hinsicht mochten wir nicht mehr ausschließen.
Wir kamen auf einen ursprünglich verworfenen Plan zurück: einen Zugriff von dem extrem steilen Dach. Zwei Kletterspezialisten sollten sich vom Giebel abseilen und durch das verschlossene Laborfenster in die Praxis eindringen, während die Präzisionsschützen zur Absicherung des waghalsigen Unternehmens die vordere Fensterfront im Auge behielten. Allerdings musste Cordula P. unbedingt aus diesem Bereich heraus, der ja im Notfall zum Schussfeld würde. Aber wie? Zwischenzeitlich ging sie sogar einmal kurz ins Labor, um am Fenster frische Luft zu schnappen, doch der Moment war vorüber, bevor Zeit zum Eingreifen blieb.
Gegen 19 Uhr spitzte sich die Lage dramatisch zu, beendete jedes Wenn und Aber. Bei einem Telefonat zwischen Täter und Verhandlungsgruppe schrie die Geisel hysterisch in den Hörer: » Wenn ihr keinen Scharfschützen herbeischafft, erschießt er mich!« Jetzt überstürzten sich die Ereignisse. Der Einsatzleiter gab den Zugriff frei, das Scharfschützenfahrzeug fuhr direkt unter dem Fenster vor, ein uniformierter Polizist zeigte dramatisch sein Gewehr, und endlich durfte die Geisel den Raum verlassen. Gleichzeitig seilten sich die beiden Kletterasse vom Dach ab, hingen schon über dem Fensterbrett des Labors.
Alles lief nach Plan, und vorsichtiger Optimismus machte sich breit. Schnell rein und Cordula P. aus der unmittelbaren Gefahrenzone bringen, während vom Treppenhaus her der Notzugriffstrupp in die Praxis eindrang und den Geiselnehmer überwältigte. Notfalls mit Unterstützung eines Polizeihunds. Wir setzten auf das Überraschungsmoment, hofften darauf, dass der Täter keinen Widerstand leistete.
Leider lief es nicht so. Als die beiden Kollegen sich durch das Fenster ins Labor schwingen wollten, schoben sie mit dem Fensterflügel Zahnprothesen und Bohrer von dem darunterstehenden Arbeitstisch. Es schepperte gewaltig. Aus einer Wohnung gegenüber beobachtete ich, wie der Geiselnehmer den vorderen Raum verließ, schrie noch ins Funkgerät: » Täter kommt! Täter kommt!« Die Kletterer im Labor waren gerade dabei, die Seile loszubinden. Ungesichert knieten sie auf dem Fenstersims, griffen nach ihren Waffen, dann stand er bereits vor ihnen, in der Hand eine Pistole. » Polizei, Hände hoch!«, schrien sie und gaben vier Schüsse ab. Getroffen sank der Mann zusammen und blieb reglos in der Tür liegen.
Kaum zwei Sekunden später hörten wir erleichtert über Funk die
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