Zugriff
Person scheint mehrere Geiseln in einer Zahnarztpraxis genommen zu haben. Motiv völlig unbekannt«, sagte unser Kommandoführer und nannte uns die Adresse, wo wir uns mit ihm treffen sollten.
In der Straße wimmelte es bei unserer Ankunft bereits von Polizeiwagen. Auch Notarzt und Feuerwehr waren schon vor Ort. Dazu jede Menge Streifen- und Verkehrspolizisten sowie Kriminalbeamte und Polizeipsychologen. Wir konnten uns nur wundern. » Das schaut ja fast aus, als hätte man uns beim Alarmierungsplan vergessen«, sagte ich zu einem der Gruppenführer. Egal. Jetzt war keine Zeit für Kompetenzgerangel. Wir brauchten genaue Informationen, und zwar umgehend.
Folgendes hatte sich ereignet: Ein mit grüner Sturmhaube maskierter Täter betrat gegen zehn die Zahnarztpraxis im dritten Stock eines Wohnblocks, suchte zunächst die Toilettenräume auf, um kurz darauf mit einer großkalibrigen Faustfeuerwaffe in der Hand wieder herauszukommen. Insgesamt zwölf Personen brachte er in seine Gewalt: den Zahnarzt, die Zahnarzthelferinnen, den Laboranten sowie mehrere Patienten. Das Drama blieb lange unentdeckt, weil der Geiselnehmer weder Kontakt nach draußen suchte noch hereinkommende Telefongespräche entgegennahm. Die Tür zur Praxis sperrte er ab. Mancher Patient wunderte sich zwar, schöpfte aber keinen Verdacht, dass es da nicht mit rechten Dingen zuging.
Erst Stunden später rief jemand die Polizei an, die wiederum uns und die Verhandlungsgruppe alarmierte. Auf deren Bemühungen hin kam in den frühen Nachmittagsstunden immerhin ein erster Kontakt zum Geiselnehmer zustande. Kein direkter allerdings, denn der Mann schaltete die Zahnarzthelferin Cordula P. als Sprachrohr ein. Wir erfuhren, dass es sich um einen 27-jährigen Lagerarbeiter bei einer Autofirma und um zwölf Geiseln handelte. Grund genug für das SEK , das ganze Kommando zu alarmieren: 60 Mann, die nach und nach eintrafen.
Inzwischen war unser Kommandoführer ebenfalls vor Ort und verteilte die Aufgaben: Positionierung von Einsatzkräften, Vorbereitung eines regulären Zugriffs mit verschiedenen Optionen, Errichten von Beobachtungs- und Präzisionsschützenstellungen, Bereitstellen von sechs schnellen Fahrzeugen, falls der Geiselnehmer sich abzusetzen versuchte. Inzwischen gab es auch Neues vom Täter: Er verlangte, dass auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Scharfschütze in Stellung gehen sollte. Ein absurder Wunsch! So etwas war mir in all den Jahren beim SEK noch nicht untergekommen. Was das wohl sollte? Für mich klang das geradezu wie eine Einladung zum Erschießen.
Natürlich leisteten wir dieser Aufforderung keine Folge, schleusten stattdessen Männer, die schwere Schutzschilde mit sich führten, für einen Notzugriff ins Treppenhaus bis in die Nähe der Eingangstür zur Praxis. Eine reine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, dass unerwartete Vorkommnisse ein sofortiges Eingreifen notwendig machten. Gleichzeitig wurde intensiv an einem Plan für den » normalen« Zugriff gearbeitet. Die Präzisionsschützen suchten sich günstige Positionen in gegenüberliegenden Wohnungen. Wie zumeist zeigten sich die Bewohner entgegenkommend und verständnisvoll. Zwar wäre zur Not auch eine Beschlagnahmung möglich gewesen, doch wurde davon nur in den seltensten Fällen Gebrauch gemacht.
In einem nahe gelegenen Geschäftsraum richteten wir unsere interne Befehlsstelle ein. Von dort aus hielten wir über Video und Funk Kontakt zu den Einsatzkräften, sodass wir ständig über die Situation vor Ort informiert waren. Und mangels offizieller Pläne hatte uns der Hausmeister einen ungefähren Grundriss der Praxisräume gezeichnet. Außerdem erfuhren wir von ihm, dass die Tür durch ein Zylinderschloss und einen Sperrriegel gesichert war.
Mittlerweile waren acht Stunden seit Beginn der Geiselnahme verstrichen. Plötzlich kam per Polizeifunk die Mitteilung, dass die Freilassung der ersten Geisel unmittelbar bevorstehe. Die Verhandlungsprofis hatten sich mächtig ins Zeug gelegt und dem Täter eingeredet, dass er mit zwölf Geiseln überfordert sei. Wir hörten, wie ein Türschloss entriegelt wurde. Unsere Männer vom Notzugriff berichteten kurz darauf, dass eine zierliche junge Frau durch den Türspalt geschlüpft und zu ihnen hingelaufen sei. Es handelte sich um eine der Zahnarzthelferinnen. Physisch und psychisch am Ende und kaum fähig, sich zu artikulieren. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie wirklich begriff, dass sie frei war, und uns ein paar Auskünfte
Weitere Kostenlose Bücher