Zuhause ist ueberall
früher einen Aufstand gegeben hat gegen diese mittelalterliche Sechs- bis Siebentagewoche unter Tag, unter mörderischen Sicherheits- und Arbeitsbedingungen. Jetzt hängt in jedem Zechenhaus im Revier der Spruch: Von Montag bis Freitag fürs Vaterland, Samstag für die Familie, Sonntag für Gott.
Irgendwann zieht die Partei die Notbremse, man fürchtet einen Einmarsch der Sowjetunion wie 1968 in der Tschechoslowakei, das Kriegsrecht wird ausgerufen, die Solidarność-Gewerkschaft wird verboten, die wichtigsten Funktionäre und Unterstützer werden für einige Zeit interniert.
Der 16. Dezember 1982 in Danzig. Vor einem Jahr waren wir dabei, als das große Denkmal für die erschossenen Arbeiter von 1970 vor dem Tor der Lenin-Werft eingeweiht wurde. Es war eine berührende Zeremonie. Der Schauspieler Daniel Olbrychski, ein Publikumsliebling, verlas einen nach dem anderen die Namen der Toten, und die Werftarbeiter antworteten im Chor: Er ist mit uns. Die Polen, möglicherweise geschult durch die Liturgie der katholischen Kirche, sind Meister im Umgang mit Gesten und Symbolen.
Diesmal hat die Untergrund-Solidarność zu einer Gedenkkundgebung mit Lech Wałęsa aufgerufen – aber Wałęsa wurde Stunden zuvor festgenommen. Ich bin gerade in der Brigittakirche, der Pfarrkirche der Werft, als Wałęsas Leibwächter ganz aufgelöst hereingestürzt kommt und ruft: Sie haben ihn wieder geschnappt. Uns erblickend, schreit er zornig: Ihr vom Fernsehen, nie seid ihr da, wenn man euch braucht.
Die Kundgebung findet trotzdem statt. Die Sonderpolizei ZOMO, furchterregend anzusehen mit ihren Schildern, Visieren, Gummiknüppeln, hat den ganzen Platz ums Denkmal abgesperrt und vom Werkstor bis zur Hauptstraße nur einen schmalen Gang freigelassen, durch den die Arbeiter nach der Schicht durch ein Polizeispalier hinausgehen sollen. Rundum überall Panzerfahrzeuge und Wasserwerfer. Meine Dolmetscherin Hanka und ich haben einen alten Werftpensionisten aufgetan, der uns in eine Wohnung direkt gegenüber vom Werkstor führt. Vom Fenster aus haben wir einen fabelhaften Blick auf die Ereignisse. Punkt drei Uhr plötzlich: Sturmangriff der Werftarbeiter. Sie pressen sich dicht aneinander, bilden einen geschlossenen Keil, durchbrechen wie ein Rammbock den Polizeikordon und stürmen zum Denkmal. Die überraschte ZOMO läuft davon. Und dann gibt es Sprechchöre, Gebet, Gesang – unvergessliche Bilder.
Die alte Frau, in deren Wohnung wir hereingeplatzt sind, lässt sich übrigens nicht im Geringsten aus der Ruhe bringen. Ab und zu geht sie zum Fenster und gibt fachmännische Kommentare ab über die Stärke der Polizei. Sie hat dergleichen in ihrem Leben oft gesehen. Nachher bringt sie Kuchen, und der alte Arbeiter schleppt Wodka herbei. Er will mit mir unbedingt auf »Bolschewiken an den Galgen« anstoßen. Ich möchte lieber auf die Solidarność trinken, und die alte Frau stimmt mir bei: Ja, ja, wir zwei trinken auf die Solidarność.
Wenn Hanka nicht für uns arbeitet, werkt sie an einem sogenannten »Punkt«, einer Hilfsstelle für arbeitslose Solidarność-Aktivisten, die sie, der Freigeist, ausgerechnet in einem Kirchenkeller organisiert hat. Momentan ist sie unglücklich über Frau S., die Frau eines unserer ausländischen Korrespondentenkollegen. Diese hat einen Hilfstransport aus ihrem Heimatland hierhergebracht und will nun als Lady Bountiful gefeiert werden. Die Helfer am »Punkt« passen ihr nicht, sie möchte die Gaben unbedingt selber verteilen. Sie kann aber kein Wort Polnisch und muss daher ständig von einer Hofdame betreut werden. Frau S. erwartet pausenlos Dank und Verehrung und bekommt diese von Hankas schwer arbeitenden Mitarbeitern natürlich überhaupt nicht. Nun ist sie beleidigt und droht, mit all ihren Gütern abzuziehen und diese über ihre Botschaft anderweitig zu verteilen. Wohltäter können mühsam sein – aber andererseits sind die Polen tatsächlich keine befriedigenden Hilfsobjekte. Sie sind weder gerührt noch devot und liefern für Hilfspakete wenig Gegenleistungen in Form von Tränen in den Augen oder überschwänglichen Dankesbezeugungen. Da sie selber großzügig sind, finden sie fremde Hilfe selbstverständlich. Schwierig, schwierig.
Im Frühjahr 1988 jährt sich zum 45. Mal der Aufstand im Warschauer Ghetto. Es gibt Diskussionen, wie dieses Ereignis zu feiern ist. Und plötzlich rückt ein Thema für mich in den Vordergrund, das inmitten all der Turbulenzen der letzten Jahre untergegangen ist: die
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