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Zuhause ist ueberall

Zuhause ist ueberall

Titel: Zuhause ist ueberall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Coudenhove-Kalergi
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Fetzchen eines großen Gewebes. Die letzten Juden, die nach dem Holocaust noch im Lande waren, verließen Polen in den Sechzigerjahren, als wieder einmal eine Welle des Antisemitismus hochschwappte. Unter ihnen war auch die Schauspielerin Esther Kaminska, prägende Persönlichkeit des einst hochberühmten Warschauer Jüdischen Theaters. Das Theater gibt es noch, aber es spielen dort nur noch ganz wenige jüdische Schauspieler. Armseliger Rest der einst bedeutenden jüdischen Theatertradition in Polen. Fünfzehn stabile jiddisch spielende Theater hat es vor dem Krieg im Lande gegeben, die zahllosen Wandertheater nicht mitgerechnet. Einer aus dem Warschauer Ensemble sagt, die Kaminska habe 1964 noch in Wien, im Theater an der Wien, gastiert. Jemand hätte mit Scheiße »Juden raus« auf ihren Garderobenspiegel geschrieben. Die Schauspielerin hätte geweint. Hört denn dieser Wahnsinn nie auf?
    Trotzdem erleben wir große Herzlichkeit bei unseren Gesprächspartnern und eine immer noch vorhandene Sympathie für das alte Österreich. Der alte Schauspieler Michał Szwejlich erzählt uns von seinem Vater, einem galizischen »Bronfenbrenner«, einem Branntweiner. Der polnische Bürgermeister im Dorf hatte ihm seine Konzession weggenommen. Daraufhin fuhr Vater Schwejlich nach Wien, ließ sich beim Kaiser anmelden, trug ihm sein Anliegen vor und bekam prompt recht. Eine Geschichte, die von Joseph Roth sein könnte.
    Ein ganzer Film lässt sich freilich aus all diesen Bruchstücken nicht machen, das wird uns bald klar. Wenn wir die Menschen des Stetls zeigen wollen, müssen wir nach Israel fahren. Dorthin hat der letzte Exodus sie geführt. Die Frommen finden wir in Mea Shearim, dem ultraorthodoxen Viertel von Jerusalem.
    Mea Shearim – das ich bisher nur aus der Touristenperspektive flüchtig kannte – ist ein osteuropäisches Stetl im Orient. Alle paar Schritte eine neue »Region«: Galizien, Warschau, Weißrussland, die Bukowina, Ungarn. Alle paar Schritte eine »Schul«. Alte und Junge sitzen hier nebeneinander auf harten Bänken, ein Glas Tee und ein Buch vor sich, dem Lernen hingegeben und dazwischen gelegentlich ein Schläfchen riskierend – wie ich durch einen verstohlenen Blick von außen feststelle. Als Frau darf ich natürlich nicht hinein, trotz langärmeliger Jacke und Kopftuch.
    Mein Kontakt zu Mea Shearim waren die Lubawitscher, die Anhänger des Lubawitscher Rebbe. Dessen Nachfolger sitzt in New York, aber die Bewegung hat auch einen Vertreter in Wien. Die Lubawitscher sind eine kuriose Mischung aus Osteuropa und Amerika. Wie einst im Stetl erbitten sie den Rat des Rebbe in allen möglichen Lebenslagen – Heiraten, Geschäft, Lebensweise –, aber wie in Amerika verfügen sie auch über ein wohlorganisiertes Publicity-System. Der Jerusalemer Vertreter der Lubawitscher ist ein ehrwürdiger bärtiger Herr, Rabbi Nathan Wolf, der schönstes Deutsch spricht. Seine vielen Söhne sind etwas weniger ehrwürdig. Sie teilen den Strom der Petenten ein und organisieren die weitverzweigten Lubawitscher Unternehmungen, Schulen, Kindergärten etc. Umgangssprache ist saftiges Jiddisch.
    In der Jeshiva, der Talmudschule, geht es übrigens tatsächlich zu wie in der sprichwörtlichen Judenschule. Auf den ersten Blick – den ich, als Frau, natürlich wiederum nur von der Tür aus auf den Saal werfen kann, während das Team dreht – sieht man nichts als allgemeines Gewackel und hört nichts als einen Heidenlärm. Auf den zweiten Blick erweist sich das vermeintliche Durcheinander aber als höchst konzentriertes Lernen. Den Lehrer, der zunächst unsichtbar scheint, entdeckt man schließlich, er sitzt unauffällig in einem Eck. Er wird um Rat gefragt, wenn sich jemand nicht auskennt.
    Die Schüler diskutieren mit ihm, zu zweit oder einzeln. »Vortrag« scheint es nicht zu geben. Man »lernt« jeweils zu zweit. Zwei Schüler (Bocher) sitzen einander gegenüber und lesen laut und »schockelnd« (wackelnd) ihre hebräischen Texte singend vor. Vorher haben sie natürlich ihre »Tefillin« (Gebetsriemen) angelegt. Gelegentlich gibt es hitzige Diskussionen, wenn sich zwei über die Bedeutung eines Textes nicht einig sind. Ein großes Kaffeehaus, in dem sich alles um den lieben Gott dreht.
    Obwohl Gespräche mit fremden Damen wohl nicht ganz im Sinne des Curriculums sind, gerate ich dann doch mit ein paar Schülern ins Reden. Einer hat den Charme eines Brooklyner Straßenjungen (der er vermutlich auch ist) und antwortet auf meine

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