Zuhause ist ueberall
prophetische Voraussage. Praktisch jeder Krakauer, den wir treffen, sagt uns stolz, dass er den Papst persönlich kennt.
Nicht zuletzt die Mitglieder der Szlachta, des polnischen Adels. Ich lerne, dass in Polen Adelstitel nicht viel gelten, weil sie meist von den Okkupationsmächten verliehen worden sind. Wichtiger ist die Familiengeschichte und die Rolle der Familie in der von Aufständen und Freiheitskämpfen durchzogenen Geschichte des Landes. Als nach Ausrufung des Kriegsrechts viele Unterstützer der Solidarność festgenommen werden, erzählt einer, in seiner Familie sei seit hundertfünfzig Jahren noch in jeder Generation einer im Gefängnis gesessen. Ein Köfferchen mit dem Nötigsten stehe für diesen Fall immer bereit.
Das Regime ist immer noch da – aber viele seiner Diener gehorchen ihm nicht mehr. Die Agentur Interpress ist einem Ministerium unterstellt, aber ihre Angestellten unterstützen uns, wo sie können. Zuständig für die deutschsprachigen Korrespondenten ist Czesław Lisowski, ein hochgebildeter, etwas skurriler älterer Junggeselle. Er hat eine Leidenschaft für alles, was mit polnischer Geschichte zusammenhängt, und eine leise Schwäche für Österreich. Von den drei Okkupationsmächten war Österreich im Vergleich zu Russland und Preußen noch die erträglichste. Czesław besteht darauf, mich auf den historischen Powązki-Friedhof zu führen und mir das Grab meiner Ururgroßmutter Maria Kalergi zu zeigen. Diese war die Tochter des damaligen russischen Gouverneurs Graf Nesselrode, sympathisierte aber mit den polnischen Aufständischen. Es gibt eine Geschichte, derzufolge die russische Geheimpolizei auf der Suche nach einem verräterischen Dokument ihre Räume durchsuchte. Sie fand nichts. Maria hatte das gesuchte Papier in eine offene Hutschachtel gelegt – dort vermutete niemand etwas Verfängliches.
Das Grab ist eine pompöse Anlage, gekrönt von einer weißen Marmorbüste des alten Nesselrode. Darunter steht auf Deutsch: »Bei ihm ruht seine Tochter Marie Moukhanoff-Kalergis.« Czesław und unser Fahrer Jurek lassen es sich nicht nehmen, eine Menge Kerzen und Blumen zu kaufen und vor dem Grabstein aufzustellen. Maria Kalergi (die weibliche Form des griechischen Namens Kalergis) ist in Polen eine berühmte Figur. Weil sie von dem polnischen Schriftsteller Norwid verehrt wurde und mit dem polnischen Freiheitskampf verbunden war, gehört sie zum patriotischen Pantheon. Die Polen sind ein dankbares Volk. Sogar der Schriftsteller Jerzy Putrament, ein regimetreuer alter Kommunist, den ich irgendwo kennenlerne, küsst mir zeremoniös die Hand und begrüßt mich, als er meinen Namen hört, mit den Worten »Vous êtes pour moi, madame, un objet de la vénération et de la piété.«
Was die Leute in diesem Jahr freilich wirklich bewegt, ist die immer schlechtere Versorgungslage und die Tatsache, dass die Errungenschaften, die die Solidarność im Voraus erreicht hat, langsam wieder zurückgedreht werden sollen. Wir haben die Erlaubnis, in eine Kohlengrube einzufahren und stehen schon in Bergarbeiterkluft, mit Helm und Lampe, am Schachteingang, als die Frühschicht ausfährt. Ich frage die Leute ein bisschen über den freien Samstag aus, der wegen der Kohlenkrise abgeschafft werden soll – und das Resultat ist ein Zornausbruch, der den anwesenden Direktor bleich werden lässt. Die Bergarbeiter, junge, magere Burschen mit blassen Gesichtern unter dem Kohlenstaub, schreien ihre Empörung hinaus: Wir haben nichts zu essen, schauen Sie nur her, mit einem Margarinebrot als Jause müssen wir einfahren, seit dem Krieg arbeiten wir Samstag, Sonntag, und jetzt wollen sie uns auch den freien Samstag wieder wegnehmen, hier ist der Bergmann der letzte Dreck.
Der Direktor weigert sich daraufhin, uns einfahren zu lassen. Er könne für nichts garantieren, sagt er, ein Funke könnte das Pulverfass zur Explosion bringen. Proteste und Bitten helfen nichts, der Bergwerksleiter hat wohl Angst, unten im engen, finsteren Stollen diesen zornigen Leuten entgegenzutreten.
In der Nebengrube hatte es in den letzten Tagen einen Streik gegeben, ein Solidarność-Funktionär war verhaftet worden, und nur mit der Drohung eines Generalstreiks hatten seine Kollegen ihn wieder freibekommen. Es ging um manipulative Berichterstattung im polnischen Fernsehen. Wir haben den Mann nachher interviewt, einen netten, ruhigen Schlesier. Diese Leute sind ja wirklich alles andere als Revoluzzer. Es ist ein Wunder, dass es nicht schon
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