Zuhause ist ueberall
Arbeiterfamilie und darüber, wie sie die Ereignisse erlebt hat. Der Vater ist Autobuschauffeur in Warschau und war bei der Gewerkschaftsarbeit unter den Mitarbeitern der Verkehrsbetriebe aktiv. Ein Bild in Życie Warszawy zeigt ihn in Revolutionärspose, mit erhobener Faust an der Seite von Lech Wałęsa vor dem Wojwodschaftsgericht, das die Gewerkschaft registriert hat.
Im richtigen Leben ist Franciszek Kosiacki ein ruhiger, sympathischer Mann, kein junger Hitzkopf, sondern ein Familienvater von Mitte fünfzig, mit der Besonnenheit und Erfahrung eines alten Arbeiters, der – eine Seltenheit in diesem Bauernland – schon in der dritten Generation Arbeiter ist. Wir haben ihn in der Remise gefilmt, an seiner Seite seine hübsche Tochter Monika, selbst eine große Aktivistin, die als Helferin und Sekretärin in einer turbulenten Gewerkschaftssitzung dabei war, in der es darum ging, die Diebereien der Direktoren und den unnützen Materialverbrauch aufzudecken und abzustellen. Der 18-jährige Sohn Alexander, ein etwas schwieriger kleiner Träumer, sagt, dass jetzt in der Berufsschule alles anders ist. Die Lehrer diskutieren plötzlich mit den Schülern über Politik, und die Meister im Betrieb sind auf einmal höflich. Und die kleine 16-jährige Elsbeta meint, sie sei selbst erstaunt, was sie sich jetzt alles traut, in der Schule und in der Arbeit.
Der Clou ist die Mama, die kocht und putzt und tröstet, strahlt, wenn es allen schmeckt, und uns mit der Freundlichkeit und Gastlichkeit einer Bäuerin – die sie von Haus aus ist – in der winzigen Wohnung empfängt und bewirtet. Die Wohnung ist ein Schock: Sechs Erwachsene inklusive Monikas Mann Krzysztof, der zurzeit beim Militär ist und nur sonntags kommt, wohnen in Zimmer, Küche, Kabinett, je zwei in einem Bett. Der Vater muss für die Arbeit um drei Uhr früh aufstehen, die Kinder müssen um acht in der Schule sein. Richtig zum Schlafen kommt niemand.
Wir gehen mit Wiktoria Kosiecka einkaufen. Wir brauchen gute vier Stunden, bis wir das Sonntagsmittagessen zusammenhaben: Brot, Gemüse – Butter gibt’s nicht –, Nudeln und Fleisch. Fürs Fleisch stelle ich mich an, zweieinviertel Stunden für ein ziemlich armseliges Stück, von dem Frau Kosiecka später sagt, dass es nur für Suppe taugt.
In einem Laden gibt es einen Auflauf. Empörte Hausfrauen sind dagegen, dass Ausländer filmen, wie schlecht es den Polen geht. So offen und unverblümt man auf die Regierung und die miesen Zustände schimpft, gegenüber den Fremden regt sich der Stolz, und alle bilden eine Mauer des Zusammenhaltens. Hanka, unsere Dolmetscherin, und ich haben Mühe, die Leute zu beschwichtigen.
Auch beim Schlangestehen kommt es zu einem beklemmenden Zwischenfall: Eine alte Frau schreit plötzlich unseren jungen polnischen Beleuchter an, ob er sich nicht schämt, für Deutsche zu arbeiten. Sie weint und tobt, und als ich zu ihr gehe, zeigt sie mir ihre verkrüppelte Hand. Sie war drei Jahre in Ravensbrück, die SS-Wachen haben den Hund auf sie gehetzt, und auch die Nieren haben sie ihr kaputt geschlagen. Als sie uns deutsch reden hörte, war plötzlich alles wieder da. Auch der Anblick von Franzi Goess, dem baumlangen Kameramann, sehr blond und sehr blauäugig, hat wohl Erinnerungen geweckt. Erst als ich ihr sage, dass wir Österreicher sind (auch nicht besser), dass Franzis Vater im KZ war und mein Mann auch von den Nazis eingesperrt, beruhigt sie sich wieder. Aber mir ist etwas flau zumute, als wir weitermachen und wissen, dass wir nachher im Hotel so viel fürs Mittagessen ausgeben werden, wie diese Leute in der Woche verdienen.
Die Versorgungslage ist schlecht, in der Politik gibt es eine wacklige Balance zwischen Partei, Gewerkschaft und Kirche, immer noch ist nicht wirklich klar, ob die Sowjetunion all die Umwälzungen auf die Dauer dulden wird – aber die Zivilgesellschaft blüht auf. Wir reisen durch das Land und lernen, wie dieses bei uns weithin unbekannte Polen funktioniert.
Krakau ist die Stadt des neuen polnischen Papstes. Eine Million Menschen waren da, als Johannes Paul II. bei seinem ersten Besuch in der Heimat seine einstige Bischofsstadt besuchte, und seine Predigt vor den begeisterten Massen war eher ein Dialog zwischen alten Bekannten als ein Monolog des Gastes. Als der Dąbrowski-Marsch erklang, die Nationalhymne, mit der Textzeile »Marsch, marsch, Dąbrowski, von Italien nach Polen, unter deiner Führung vereinigen wir uns mit dem Volk«, nahmen das alle als
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