Zuhause ist ueberall
über drei Millionen polnischen Juden, die in den Jahren der deutschen Okkupation ermordet oder vertrieben wurden und nun im Lande fehlen.
Abschied vom Stetl
Die Gedenkfeier zum Ghettoaufstand wird eine etwas mühsame Angelegenheit. Eine Delegation des Jüdischen Weltkongresses ist da und wird von polnischen Regierungsvertretern empfangen. Man überpurzelt sich in Imagepflege und einem dick aufgetragenen plötzlichen Philosemitismus. Ein Witz lautet: Was trägt man jetzt in Warschau? Die Juden auf Händen. Adam Michnik sagt: Die Regierung glaubt, die Juden sind eine internationale Finanzmacht und werden Kredite springen lassen, wenn die Polen eine aufwendige Ghettofeier machen. Peinlich nur, dass der einzige Überlebende der damaligen Anführer des Aufstands, der Kardiologe Dr. Marek Edelman, sich weigert, an den offiziellen Feierlichkeiten teilzunehmen. Er sagt, er und seine Freunde hätten damals für die Freiheit und die Menschenrechte gekämpft – und die seien heute in Polen, wo die Solidarność-Gewerkschaft nach wie vor verboten ist, nicht garantiert.
Marek Edelman ist ein hochgewachsener Mann, schmal und grau, Arzt am Krankenhaus in Łódź. Er ist kein frommer Jude und auch kein Zionist, sondern war als Jugendlicher Mitglied des Algemejnen Jidischen Arbeterbund in Lite, Pojln un Russland, kurz »Bund« genannt, einer linken Organisation, die im eigenen Land für mehr Arbeiterrechte eintrat. Edelman kann falsches Pathos nicht leiden und auch nicht die Verklärung des Aufstands im Nachhinein durch Leute, die damals keinen Finger für die Juden gerührt haben. Und er mag es auch nicht, wenn man den von vornherein zum Scheitern verurteilten Aufstand der Ghettokämpfer als positives Beispiel dem widerstandslosen Sterben der Juden gegenüberstellt, die sich »wie Schafe zur Schlachtbank« in die Vernichtung treiben ließen. Als wir ihn interviewen, sagt er, was er schon in anderen Interviews gesagt hat: Wir haben uns halt eingebildet, dass wir schießend sterben müssen. Das ist leichter, als einen Viehwaggon nach Treblinka zu besteigen. Ihm gefällt auch das offizielle Ghettodenkmal mit seinen muskulösen Heroenfiguren nicht. Die wirklichen Aufständischen sahen anders aus. Ein Häuflein halbverhungerter Jugendlicher.
Edelman hat von der ersten Stunde an die Solidarność unterstützt. Und jetzt organisiert er, während die Offiziellen sich am Ghettodenkmal versammeln, zusammen mit den Führern und Mitgliedern der verbotenen Gewerkschaft eine andere Feier. Man trifft sich auf dem jüdischen Friedhof, an den Gräbern zweier weithin vergessener Bundistenführer, die in der Sowjetunion ermordet worden sind. Der »Bund« war beim Ghettoaufstand führend beteiligt. Heute ist von den Bundisten nicht mehr viel die Rede, weder in Israel noch in Polen und Russland. Den einen waren sie zu wenig zionistisch, den anderen zu wenig kommunistisch. Edelman hält eine kurze Rede, betont unsentimental und nüchtern, aber getragen von innerer Leidenschaft. Seine Botschaft: Der Kampf für die allgemeinen Menschenrechte ist unteilbar, er wurde und wird geführt von Juden wie von Nichtjuden.
Mit Marek Edelman, einst stellvertretender Kommandant des Warschauer Ghettoaufstandes, während der Dreharbeiten zu dem Film »Abschied vom Stetl«
Es ist eine schöne und berührende Stunde. Und gleichzeitig eine merkwürdige Hut-Modeschau. Die Solidarność-Leute haben alle, wie es sich auf einem jüdischen Friedhof gehört, Kopfbedeckungen auf. Tadeusz Mazowiecki einen edel-abgetragenen englischen Tweedhut, Jacek Kuroń, der Trotzkist, eine Baseballkappe, Krzysztof Śliwiński eine Leninmütze. Der Einzige, der barhäuptig erschienen ist, ist Marek Edelman. Es gibt ausnahmsweise keine patriotischen Kirchenlieder, sondern Reden auf Jiddisch und Polnisch. Die Solidarność entdeckt eine ihrer Wurzeln wieder: die jüdische Arbeiterbewegung. Der junge Zbigniew Bujak, Anführer der Warschauer Metallarbeiter, einer der großen Helden der Gewerkschaft, der untergetaucht war und jetzt plötzlich wieder da ist, sagt: Jetzt erst erkennen wir, dass uns etwas fehlt. Wie ein Arm oder ein Bein oder vielleicht das Herz. Die Juden.
Mir geht es genauso. Die Welt des Ostjudentums ist für immer verschwunden, nur noch gegenwärtig in den Büchern von Joseph Roth, Isaac Bashevis Singer, Manès Sperber und vielen anderen. Die Welt der Frommen, die auf das Erscheinen des Messias hofften. Die Welt der Revolutionäre, die die Erlösung aus dem Elend von der
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