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Zuhause ist ueberall

Zuhause ist ueberall

Titel: Zuhause ist ueberall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Coudenhove-Kalergi
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Straßen laufen, viele mit blutigen Köpfen. Sie prügeln wie verrückt, rufen sie, und meinen die Polizei.
    Das ist der Funken, der den seit Jahren aufgestauten Unmut der Menschen zur Explosion bringt. Am nächsten Tag strömen Tausende zum Wenzelsplatz, diesmal sind es Erwachsene. Sie sind empört. Sie wehren sich gegen die Polizeibrutalität gegen ihre Kinder. Gerüchte schwirren durch die Stadt. Von Schwerverletzten ist die Rede, sogar von einem Toten. Die Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Zorn liegt in der Luft. Und man will am andern Tag weiterdemonstrieren. Noch ein Tag, und es sind Zehntausende, die sich auf dem Platz versammeln. Dann Hunderttausende und schließlich eine Million. Längst ist der riesige Wenzelsplatz zu klein geworden, die Kundgebungen finden am Ende auf der Letna statt, der Hügelkette am linken Moldauufer. In den ersten Tagen hat die Polizei noch versucht, die Leute mit Wasserwerfern auseinanderzutreiben. Vergeblich. Dann gibt sie es auf. Die Masse ist einfach zu groß.
    Und nun erleben wir jeden Abend eine Theateraufführung, die den Platz in eine riesige Freilichtbühne verwandelt. Das Stück, das hier gespielt wird, ist einmal rührend, einmal begeisternd, einmal komisch. Und die ganze Stadt spielt mit. Regie führt Václav Havel, der mundtot gemachte Theaterautor, der in der breiten Öffentlichkeit zunächst noch völlig unbekannt ist.
    Die Redaktion der Zeitung Svobodné Slovo (Das freie Wort), einst Organ der Sozialdemokraten, hat ihr Büro am Wenzelsplatz. Und das Büro hat einen Balkon. Diesen Balkon haben die Zeitungsleute Havel und seinen Freunden zur Verfügung gestellt. Tagelang werden von hier aus Reden gehalten, es wird gesungen, informiert, agitiert. Was hier gesagt wird, hält das ganze Land in seinem Bann. Die Opposition, bis vor kurzem ein kleines Häufchen arbeitsloser Intellektueller, regiert die Stadt. Alle Fäden laufen bei Václav Havel zusammen, aber dieser hat wichtige Helfer. Einer von ihnen ist Václav Malý, katholischer Priester mit Berufsverbot, jetzt Heizer bei der Prager U-Bahn. Er macht den Moderator, sagt das Programm an, stellt die Redner vor, feuert die Menge an und dämpft sie, wenn die Emotionen überzugehen drohen. Und manchmal bringt er sie auch zum Lachen. Wir haben eine Revolution, die lacht, meint Malý, und muss darüber selber lachen.
    Wir denken jetzt an unsere Freunde im Gefängnis, sagt der Moderator, vor allem an Petr Uhl. Uhl, Ex-Trotzkist, unbeirrbarer Kritiker des Regimes von links, ist am Abend der Studentenproteste verhaftet worden. Ich hatte die Uhls noch kurz vorher besucht. Das ganze Stiegenhaus vor ihrer Wohnung war voll mit Polizisten. Alle Besucher, auch ich, mussten sich ausweisen und wurden auf Listen eingetragen. Die Menschen auf dem Wenzelsplatz sind empört. Tauscht ihn aus gegen Jakeš, ruft die Menge. Miloš Jakeš ist einer der verhasstesten Männer in der kommunistischen Parteiführung. Malý wiegelt ab. Petr Uhl ist doch viel mehr wert als Jakeš, sagt er. Und siehe da, am nächsten Abend steht Uhl selber auf dem Balkon und hält eine feurige Rede. Riesenapplaus.
    Wir sind gespannt. Wer wird noch aller auftauchen? Werden jetzt auch andere Verhaftete freigelassen? Tatsächlich, alle möglichen Leute erscheinen, die bis vor kurzem im Gefängnis waren. Der Balkon wird zum Laufsteg. Ján Čarnogurský, der slowakische Christdemokrat, später Ministerpräsident der unabhängigen Slowakei. Die Sängerin Marta Kubišová steht plötzlich da, die Muse des Prager Frühlings. Seit zwanzig Jahren hat man nichts mehr von ihr gehört. Jetzt ist sie auf einmal wieder zurück. Sie singt das Lied, das einem berühmten Text des Renaissance-Humanisten Komenský nachempfunden ist und das damals Kult war. »… dass du, mein Volk, deine Sachen in die eigenen Hände nehmen sollst.« Und die Nationalhymne »Kde domov můj«, wo ist meine Heimat. Sie singt die Hymne nicht triumphalistisch, sondern verträumt, wie ein Gebet. Alle heulen Rotz und Wasser. Ich auch.

Prag, November 1989
    Auch Alexander Dubček spricht vom Balkon. Er war Parteichef in der Zeit des Prager Frühlings, er wurde abserviert und nach Moskau verschleppt, als die Armeen des Warschauer Paktes einmarschierten. Er war damals überaus populär, ein sympathischer, bescheidener Mann ohne Blut an den Händen. Er war das Symbol des »Sozialismus mit menschlichem Gesicht«. In den letzten zwanzig Jahren war er von der öffentlichen Bühne verschwunden und arbeitete irgendwo weit

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