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Zuhause ist ueberall

Zuhause ist ueberall

Titel: Zuhause ist ueberall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Coudenhove-Kalergi
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weg in der Slowakei. Jetzt bekommt er von den Massen auf dem Wenzelsplatz freundlichen Applaus. Aber auch nicht mehr. Es ist klar: Er ist ein Mann von gestern. Heute wollen die Leute keinen Sozialismus mit menschlichem Gesicht mehr. Sie wollen überhaupt keinen Sozialismus.
    Der Mann der Stunde ist Václav Havel. Er spricht jeden Abend, seine Stimme wird immer heiserer, man sieht ihm an, dass er in diesen Tagen überhaupt nicht zum Schlafen kommt. Er formuliert, was die Menschen wollen: Abschaffung der Zensur. Freilassung aller politischen Gefangenen. Rechtsstaat. Demokratische Reformen. Bald schon ertönt der Ruf: Havel auf die Burg. Das heißt: Havel soll Präsident werden. Es ist nicht zu glauben: Vor kurzem war dieser Mann noch im Gefängnis, ein rechtloser Häftling. Jetzt wollen ihn die Menschen an der Spitze des Staates sehen.
    Was sich auf dem Platz tut, ist fast ebenso faszinierend wie das, was sich auf dem Balkon abspielt. Die Leute erfinden jeden Tag neue Sprüche, oft gereimt, manchmal witzig, manchmal drohend, die dann in Sprechchören skandiert werden. Schau nur, Gusta, wie voll es hier ist, reimen sie, an die Adresse des Staatspräsidenten Gustav Husák gerichtet. Sie holen ihre Hausschlüssel aus den Taschen und lassen sie in einem tausendstimmigen Schlüsselkonzert scheppern: die Totenglocke für das Regime. Das Schlüsselläuten ist der berühmten Sternenuhr am Altstädter Rathaus abgeschaut, wo zu jeder vollen Stunde ein Totengerippe ein Glöckchen läutet. Und irgendwann ertönt auch der Ruf: Wir wollen zurück nach Europa. Noch denkt niemand an die Europäische Union. Was die Menschen meinen, ist: zurück in die Region, in die wir gehören und in die wir immer gehört haben, wo Demokratie, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit herrschen. Was haben wir im Ostblock verloren?
    Das Wetter ist unfreundlich und eiskalt. Hausfrauen aus den umliegenden Gassen tauchen auf, sie bringen heißen Tee in großen Töpfen und selbstgebackene Buchteln und Powidlkolatschen, die sie an die frierenden Demonstranten verteilen. Ein großer Moment kommt, als in langem Zug die Arbeiter der Waggonfabrik ČKD auf dem Platz eintreffen. Sie tragen ein Transparent mit sich: ČKD solidarisch mit den Studenten. ČKD ist seit jeher ein höchst politisierter Traditionsbetrieb, eng verbunden mit der Geschichte der tschechischen Arbeiterbewegung. Als nach dem Einmarsch der Sowjets 1968, heimlich und verboten, ein Parteitag der erneuerten KPČ tagte, der die alten Stalinisten ab- und die Reformer in die Führung hineinwählte, fand er in den Werkshallen von ČKD statt. Der Zug wird mit Jubel und donnerndem Applaus begrüßt. Jetzt wissen alle: Diese Bewegung ist keine Sache der Intellektuellen und Studenten mehr, auch die Arbeiter stehen hinter ihr.
    Ich mag im Allgemeinen große Menschenansammlungen nicht besonders. Ich fürchte mich ein wenig vor ihnen. Aber hier ist plötzlich alles anders. Diese gewaltige Menschenmasse ist nicht bedrohlich. Man ist höflich und freundlich, sagt, bitte nach Ihnen, wenn es Gedränge gibt. Viele Scherze werden gemacht. Und wenn wir mit unserem Filmmaterial abfahren, machen die Leute Platz, rufen: Danke, dass ihr über uns berichtet, und manchmal sogar: Hoch ORF. Es ist eine der raren und kostbaren Sternstunden in der Geschichte eines Volkes, wenn plötzlich nicht die Lauten und Brutalen im Vordergrund stehen, sondern die Mutigsten, die Anständigsten und die Besten.
    Längst ist der Wenzelsplatz nicht mehr der einzige Ort, der der »sanften Revolution« gehört. So haben britische Journalisten die Ereignisse getauft. In allen Prager Theatern werden plötzlich Lesungen und improvisierte Aufführungen abgehalten, bei denen alles zur Sprache kommt, was bisher verboten war. Die moderne tschechische Literatur, bis jetzt nur in maschingeschriebenen Exemplaren heimlich verteilt, findet endlich ein breites Publikum. Die Prager Philharmonie, das Orchester, das von den Pragern ebenso geliebt wird wie die Wiener Philharmoniker von den Wienern, gibt Gratisvorstellungen unter freiem Himmel.
    Und in Hunderten Schaufenstern der Innenstadt hängen auf einmal Plakate. Losungen, Forderungen, selbstgemalte Bilder. Eine Volksschulklasse hat auch ein Plakat gemalt und in der Auslage eines großen Geschäfts auf dem Wenzelsplatz aufgehängt. Darauf haben die Kinder sich selbst verewigt, klappernde Schlüssel in der Hand, und darunter geschrieben: Wir sind klein, aber nicht blöd.
    Wir schauen in der Universität vorbei

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