Zuhause ist ueberall
Herr Rosenfeld, werde ich immer jüdischer. Einmal im Jahr reisen sie nach Israel und treffen dort jene einstigen Mitbürger, die es dorthin verschlagen hat. Der alte Doktor Weiss lebt noch, er ist jetzt Ehrenbürger von Jerusalem. Manchmal kommen die ehemaligen Frauenkirchner auch auf Besuch ins Städtchen zurück. Sie gehen dann durch die Hauptstraße und betrachten von außen ihre Häuser, in denen jetzt die Arisierer sitzen. Sie lassen sich den Judenfriedhof aufsperren und suchen die Gräber ihrer Familien.
Dieser Friedhof ist der einzige Platz in Frauenkirchen, an dem die Modernisierungs- und Wohlstandswelle der letzten Jahre spurlos vorübergegangen ist. Das Verwalterhaus ist verfallen. An der Friedhofsmauer lehnen alte Röhren, ein ausgedienter Autobus liegt da und anderes Gerümpel. Ich steige auf einen Schutthaufen und luge über die Mauer. Hohes Gras. Umgestürzte Grabsteine. Wenn die Besucher aus Israel das sehen, schütteln sie die Köpfe.
Neulich, erzählt Herr Rosenfeld, war Amron Tauber da, der Sohn des alten Tauber, der ebenfalls nach Israel gegangen ist. Wie kannst du hier leben?, fragte Amron seinen Jugendfreund. Aber Paul Rosenfeld lebt gern hier. Er beschäftigt sich zwar, mehr als früher, mit jüdischen Dingen, aber hauptberuflich beschäftigt er sich, wie vor ihm sein Vater und sein Großvater, mit burgenländischem Weizen, burgenländischen Rüben und burgenländischem Kukuruz. »Ich mag die Leute hier«, sagt er. »Wenn das nicht so wäre, könnte ich hier nicht leben.«
Spricht’s und geht hinüber ins Wirtshaus, zu seiner allwöchentlichen Tarockpartie mit dem Müller und dem Guardian der Franziskaner.
Die sanfte Revolution
Das Denkmal des heiligen Wenzel auf dem Prager Wenzelsplatz ist für die Tschechen seit eh und je das Symbol nationaler Identität und gerechter Regierung. Der Przemyslidenherzog sitzt auf seinem Pferd, umgeben von den anderen böhmischen Landespatronen Adalbert und Prokop, Ludmilla und Agnes. Mit seinen Rittern, sagt die Sage, schläft er im Berg Blanik. Und wenn die Not am größten ist, werden sie alle aufwachen, angesprengt kommen und ihr Volk retten. In den Tagen der sanften Revolution von 1989 ist das Denkmal der Mittelpunkt des Geschehens.
Ich gehe immer schon am Vormittag hin und schaue, welche Veränderungen das Monument seit dem Vortag erlebt hat. Am Nachmittag geht das nicht mehr, denn da ist der Platz gesteckt voll mit Demonstranten. Ein Meer von Blumen bedeckt das Pflaster vor dem Reiter, dazwischen Fahnen und Kerzen. Die Bilder aller guten Geister der tschechischen Geschichte tauchen nach und nach auf: Jan Hus, der Reformator und Märtyrer, Jan Komenský, der Humanist und Emigrant, Tomáš Masaryk, der erste Präsident der Republik, Alexander Dubček, der Vater des Prager Frühlings von 1968, und schließlich Václav Havel, der neue Held der Revolution. Und am Schluss schließlich die Krönung: ein Transparent mit der Forderung »Freie Wahlen«. Wie ein Banner weht es hoch oben von der Lanze des Heiligen herab. Mir ein Rätsel, wie es ohne Kran dort angebracht werden konnte. Das Ganze sieht aus wie eine Mischung aus Wallfahrtsaltar und Popkunstwerk.
Begonnen hat alles mit einer legalen Studentendemonstration am 5. Oktober 1989, dem 50. Jahrestag einer Demonstration, mit der die Prager Hochschüler einst gegen den Einmarsch Hitlerdeutschlands in der Tschechoslowakei protestiert hatten. Der Student Jan Opletal war damals ums Leben gekommen. Jedes Jahr gibt es deshalb eine Gedenkkundgebung. Eine traditionelle Feier im Geist des Antifaschismus. Etwas, das die Behörden beim besten Willen nicht verbieten können.
Wir sind mit der Kamera dabei, als sich die Studenten vor dem Gebäude der Medizinischen Fakultät versammeln. Die Stimmung ist aufgeladen. Es ist klar, dass sich diese Demonstration auch und vor allem gegen das gegenwärtige Regime richtet und dass man zum Wenzelsplatz marschieren wird. Alle wichtigen Kundgebungen der tschechischen Geschichte haben auf diesem Platz stattgefunden. Polizeilich bewilligt ist aber nur ein Zug zum Grab Jan Opletals auf dem historischen Friedhof Višehrad weit draußen vor der Stadt. Der Wenzelsplatz ist von der Polizei hermetisch abgesperrt. Wir drehen die Demo auf dem Friedhof, fahren zum Fernsehgebäude, um unsere Geschichte für die Abendnachrichten wegzuschicken, und kehren, wie mit den Studenten vereinbart, in die Stadt zurück. Aber wir kommen nicht mehr durch. Wir treffen auf Jugendliche, die durch die
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