Zuhause ist ueberall
und finden die Studenten fieberhaft bei der Arbeit. Sie haben Videos von den Ereignissen auf dem Wenzelsplatz hergestellt, Boten bringen sie in alle größeren Städte der Republik, besonders in den östlichen Bezirken. Im Westen und im Süden wissen die Leute Bescheid, sie hören und sehen die Nachrichten aus Deutschland und Österreich. Als ich später, nach der Wende, nach Brünn und Budweis eingeladen werde, begrüßen mich die Menschen dort wie eine alte Bekannte. Sie haben alle unsere Sendungen gesehen und gehört. Aber im Osten des Landes weiß man anfangs nichts. Die Aufklärungsfahrten der Studenten tun ihre Wirkung: Bald beginnen auch in der Provinz die Versammlungen.
Die tschechoslowakischen Medien, strikt reglementiert, tun, als ob nichts wäre. Dass in Prag Revolution ist, wird nicht berichtet. Aber auch hier beginnt die Front langsam aufzuweichen. Svobodné Slovo hat den Anfang gemacht. Und wenn wir mit unseren Fernsehbeiträgen ins Fernsehzentrum kommen, um sie von dort über Leitung nach Wien zu expedieren, läuft alles zusammen, um die Bilder zu sehen. Im tschechischen Fernsehen wird derweil eine Show mit tanzenden Blondinen gezeigt. Plötzlich bricht die Show ab. Bilder vom Wenzelsplatz erscheinen auf dem Bildschirm. Wir trauen unseren Augen nicht. Aber ebenso plötzlich ist der kurze Blick auf die Wirklichkeit auch schon wieder vorbei. Jemand mit Autorität scheint herbeigeeilt zu sein und irgendeinen Schalter umgelegt zu haben. Die Blondinen tanzen wieder. Die Welt des realen Sozialismus ist wieder heil.
Aber schließlich reagieren, nolens volens, auch die Spitzen von Partei und Staat. Es gibt ein Revirement im Politbüro. Als die allabendliche Massenversammlung auf das Letna-Plateau verlegt wird, tritt plötzlich der neue Parteichef Ladislav Adamec auf, ein dicker, ein wenig hilfloser Mann, der vage über Reformen redet. Aber es ist zu spät. Er kann die Menschen nicht überzeugen. Mit ein paar kosmetischen Veränderungen der Politik, das wird schnell klar, werden sie sich nicht abspeisen lassen.
Und nun wird auch verhandelt. Die Spitzen des Staates sitzen auf einmal an einem Tisch mit den Protestierern, die sich jetzt als »Bürgerforum« konstituiert haben. Die Menschen reiben sich die Augen. Kann das wahr sein? Die allmächtigen Parteigrößen und die Leute, die sie bisher, wenn sie sie überhaupt erwähnt haben, als Staatsfeinde, Agenten, Verbrecher bezeichnet haben? Es ist eine ungleiche Begegnung. Auf der einen Seite eine Delegation von Apparatschiks, in Format und Niveau den Staatsvertretern in Polen, die seinerzeit mit der Solidarność das erste Abkommen ausverhandelt haben, weit unterlegen. Und gegenüber die Vertreter des »Bürgerforums«, keine strukturierte Opposition, sondern ein spontan entstandenes Grüppchen von politischen Amateuren. Václav Havel sitzt in der Mitte, neben ihm ein junger Popsänger, ein ehemaliger Journalist, der jetzt Heizer ist, ein Wirtschaftswissenschaftler, ein Künstler.
Über jeden Schritt, jede neue Entwicklung wird abends auf dem Letna-Plateau getreulich berichtet. Die Bevölkerung soll wissen, was abläuft. Und für die nun aus aller Welt zusammengeströmten Journalisten gibt es täglich eine Pressekonferenz im Keller eines nahegelegenen Theaters, der »Laterna Magica«. Die Schauspieler und Theaterleute sind von Anfang an Václav Havels treueste Freunde.
Auf dem Weg zur Pressekonferenz höre ich eines Tages im Radio eine schier unglaubliche Nachricht: Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei ist kollektiv zurückgetreten. Ich traue meinen Ohren nicht. Sie haben einfach aufgegeben! Alles hingeschmissen! Die noch vor Tagen allmächtige und gefürchtete Staatspartei ist weg! Ich komme atemlos im Theater an, setze mich in den Zuschauerraum zu meinen Kollegen. Auf der Bühne erscheinen Havel und Co. Sie wissen sichtlich noch nicht, was geschehen ist. Ich kämpfe mit mir. Soll ich jetzt aufstehen und schreien: Ihr habt gewonnen! So kapiert es doch endlich: Ihr seid die Sieger, auf der ganzen Linie! Aber ich traue mich nicht. Sie werden schon noch rechtzeitig draufkommen, denke ich mir.
Und tatsächlich: Was jetzt geschieht, stellt jedes Bühnendrama in den Schatten. Ein Mädchen stürzt auf die Theaterbühne. Es ruft: Das Zentralkomitee ist zurückgetreten! Einen Augenblick lang ist es ganz still im Saal. Mit diesem Riesenerfolg hat niemand gerechnet. Diese Nachricht will erst verdaut sein. Sie heißt nichts anderes als:
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