Zuhause ist ueberall
fortschrittlicher Mensch, er glaubt an gesunde Ernährung. In seiner Familie wird vegetarisch gekocht. Manchmal stecken Nachbarn seinem kleinen Sohn ein Stück Hendl zu, damit er wenigstens manchmal »etwas Ordentliches« zu essen bekommt.
Auch von Dr. Weiss gibt es einen schriftlichen Bericht über die Ereignisse, der im Dokumentationszentrum aufbewahrt wird. Weiss erleidet dasselbe Schicksal wie der Kaufmann M. »Die Drangsalierungen nahmen ein solches Ausmaß an, wie wir es uns nie vorgestellt hätten. Durch die unbarmherzigen Hiebe auf Kopf und Glieder war ich drei Tage wie gelähmt und konnte mich überhaupt nicht rühren. Drei Wochen war ich unfähig, überhaupt zu denken.« Der Gemeindevorsteher wird gezwungen, die Ausreise aller Frauenkirchner Juden innerhalb von vierzehn Tagen schriftlich zu garantieren. Wie soll das gehen? Er weiß, dass es praktisch unmöglich ist, haben doch inzwischen die meisten Länder ihre Grenzen für Juden geschlossen. Aber was bleibt ihm übrig? Was bleibt den Gemeindemitgliedern übrig? »Die Gestapo trieb uns dazu, das Land auf ungesetzlichem Weg zu verlassen.« Die Menschen flüchten über die grüne Grenze in die Tschechoslowakei oder nach Ungarn. Der Bericht von Dr. Weiss endet mit dem Satz: »So haben die Juden unserer Gemeinde bis 30.6.1938 ihre burgenländische Heimat, Haus und Hof, bettelarm verlassen.«
Genau 260 Jahre hat die Frauenkirchner Judengemeinde, die größte im Burgenland, bestanden. Ihre Geschichte endete mit einer Vertreibung, und sie begann mit einer Vertreibung. 1678 waren die Juden, samt Rabbi und »Judenrichter«, in den Ort gekommen, vertrieben aus dem wenige Kilometer entfernten Dorf Mönchhof. Die Pfarre Mönchhof gehörte damals wie heute zum Stift Heiligenkreuz. Dort hatten die Juden, ursprünglich aus Wien und Niederösterreich vertrieben, unter dem Schutz der Zisterziensermönche Duldung gefunden. In jenem Jahr aber überfielen Esterházy-Husaren aus Raabau den dortigen Judenhof und plünderten, prügelten und brandschatzten. In einer Chronik findet sich der Bericht eines P. Maurus an den Abt Clemens von Heiligenkreuz. Die Husaren hätten »den Brandtweinbrenner, der kaum möcht aufleben, den Rabbiner und andere 5 jamerlich gehautt, silber, golt, leinwat undt alle besten sach hinwekgenommen …« Anderthalbhundert »hussar« seien es gewesen, »mit gewer und waff« seien sie herangestürmt, und Geld und Gut im Wert von mehr als dreihundert Gulden hätten sie erbeutet. Der Abt protestierte in einem Brief »ad generalem Montecuculi« gegen die Übergriffe, schaffte aber gleichzeitig die Juden ab, was so viel heißt wie: Er vertrieb sie. Die Opfer mussten büßen.
Die Mönchhofer Juden wandten sich vergeblich in einer Bittschrift an den Abt und wiesen darauf hin, dass sie sich »jederzeit ohne manigliches Klagen getreu, from, ehrlich und aufrecht erhalten, auch noch ferner zu erhalten gedenken«. Aber der Abt ließ sich nicht erweichen, trotz Intervention des Erzbischofs von Gran. »Zur Verhütung viller Ungelegenheiten« mussten die Juden aus Mönchhof fort. Aufnahme fanden sie beim Fürsten Esterházy in Frauenkirchen. Die Esterházys waren wie die anderen westungarischen Magnaten, die Batthyánys und die Pálffys, den Juden nicht übelgesonnen. Sie konnten sie brauchen. In einer Gegend, wo die Bevölkerung fast durchwegs aus Analphabeten bestand, waren die Juden mit ihren sprachlichen, handwerklichen und geschäftlichen Fähigkeiten und ihren internationalen Kontakten gut einsetzbar. Und außerdem konnte man von ihnen Steuern einheben. Die Frauenkirchner Juden zahlten dem Fürsten fünfzig Gulden Toleranztaxe.
Ihre Nachkommen kamen nicht so glimpflich weg. Gleich nach der ersten Pogromnacht musste die Judengemeinde, laut dem Bericht von Herrn M., einen »horrenden Betrag« aufbringen und bei der Gestapo hinterlegen, unter dem zynischen Vorwand, diese müsse »den Juden vor den Plünderungen des Pöbels Schutz gewähren«.
Die nächsten Tage und Wochen vergehen mit verzweifelten Versuchen, wenigstens irgendetwas von den verbliebenen Habseligkeiten zu Geld zu machen. Die Geschäfte sind versiegelt. Reisen außerhalb des Orts sind nur mit einer Genehmigung der Polizei möglich. Jeder Verkehr zwischen Juden und Nichtjuden ist untersagt. Manche Frauenkirchner sind nach Wien zu Verwandten gegangen, in die berüchtigten »Sammelwohnungen« im zweiten Bezirk. Resi Kiss bringt Frau Fischer, ihrer ehemaligen Dienstgeberin, ein paar Sachen dorthin. Diese
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