Zuhause ist ueberall
Bekannte betreffen. Die Geschichte von Tante Willy macht hier freilich eine Ausnahme. In ihrem Mittelpunkt steht nicht nur eine Tante, die wir alle lieben, sondern sie kann es auch inhaltlich locker mit jedem Gartenlaube-Roman aufnehmen.
Tante Willy ist die älteste Schwester meiner Mutter. Willy hatte es nicht eilig mit dem Heiraten. Sie hatte sich zur Kinderkrankenschwester ausbilden lassen, ungewöhnlich für ihre Zeit und ihre Gesellschaftsschicht, und danach in Breznitz eine Beratungsstelle für Mütter und Kinder aufgemacht. Jede Mutter, die ihr Baby zum Untersuchen und Wiegen brachte, bekam eine Grundausstattung geschenkt, Decke, Windeln, Strampelanzüge. Willy war eine gute Psychologin: Sie schickte den Müttern ihr Paket gleich nach der Entbindung nach Hause. Dann kamen sie sicher zur Beratung, weil sie vor den anderen Frauen mit den schönen neuen Sachen paradieren wollten.
Alle mochten »unsere konteska«. Noch Jahrzehnte später, mitten in der Kommunistenzeit, schrieben ihr die Breznitzerinnen und berichteten, wenn es in ihren Familien wieder etwas Neues gab. Bei den Gutsangestellten wusste man auch, dass der sicherste Weg zu meinem Großvater über die Comtesse Willy führte. Seiner Lieblingstochter konnte er nichts abschlagen.
Eines Tages findet im Städtchen ein Konzert statt. Ein junger Geiger gastiert, Roman Wisata. Er sieht aus wie ein besonders fescher Zigeuner: groß und schlank, mit schwarzen Locken, die ihm in die Stirn fallen, und strahlend weißen Zähnen. Er spielt furios, seine Frackschöße fliegen, seine Augen blitzen. Willy sitzt in der ersten Reihe. Sie schaut Roman an. Roman schaut sie an. Und schon ist es geschehen. Es ist Liebe auf den ersten Blick.
Nach dem Konzert wird noch geplaudert. Willy trägt nach damaliger Mode eine lange Perlenkette. Sie reißt sie vorsichtig auseinander, nimmt eine Perle und reicht sie Roman. Zur Erinnerung. Und als Talisman. Die Perle bringt ihm Glück. Roman macht Karriere. Er geht auf Tournee, er gibt Konzerte in Wien, in Paris, in London. Er hat Erfolg, die Kritiker sagen ihm eine große Zukunft voraus. Willy und er wechseln Briefe. Immer wieder finden die beiden Gelegenheiten, einander zu treffen. Und schließlich macht Roman Willy einen Heiratsantrag. Das ist ganz schön kühn. Roman ist in den Augen von Willys Familie niemand. Aber diese hat sich ihn in den Kopf gesetzt, ihn und keinen anderen. Aus passenden jungen Herren hat sie sich bisher nichts gemacht, jedoch diesen Burschen mit der Zaubergeige, kleiner Leute Kind, der noch dazu gut ein paar Jahre jünger ist als sie, den will sie haben.
Sie geht zu ihrem Vater und stellt ihn vor eine schwere Wahl. Sie würde niemals ohne die Zustimmung ihres geliebten Vaters heiraten, erklärt sie ihm, aber eines soll er gleich wissen: Wenn er nein sagt, geht sie auf der Stelle nach Lambarene zum Doktor Schweitzer und pflegt dort die Aussätzigen. Der »Urwalddoktor« Schweitzer mit seiner Leprastation ist in jener Zeit eine Art Heiliger und genießt allgemeine Verehrung. Aber Willy ist kein schwärmerischer Teenager, sondern eine erfahrene Krankenschwester. Sie weiß, was sie in Afrika zu erwarten hätte.
Großpapa ist zunächst sprachlos. Doch er kennt seine Tochter und weiß: Was sie sagt, ist keine leere Drohung. Wenn sie etwas ankündigt, dann zieht sie es auch durch, und zwar konsequent. Er engagiert zuerst einmal einen Detektiv und lässt Roman, der in Wien lebt, beobachten. Ob er säuft, ein Lotterleben führt, Schulden hat. Die Auskunft: nein, nichts dergleichen. Der Kerl mit der Geige scheint ein solider junger Mann zu sein. Also gibt mein Großvater widerstrebend seinen Segen, stellt aber eine Bedingung: Roman muss eine feste Anstellung haben. Einem vazierenden Musikanten gibt er seine Tochter nicht.
Das ist sehr viel verlangt. Roman steht am Beginn einer vielversprechenden Laufbahn. Großpapa ist ein Kunstbanause, er versteht nicht, was er seinem künftigen Schwiegersohn da zumutet. Aber Roman ist es genauso ernst mit seiner Liebe wie Willy, und er stimmt zu. Sucht sich einen Job am Konservatorium in Innsbruck. Aus ist es mit Konzerttourneen und Künstlerleben, Roman wird Geigenprofessor in der Provinz. Allerdings ein guter.
Von der Hochzeit, die natürlich in Breznitz stattfindet, gibt es Fotos. Das Brautpaar sieht schön und strahlend aus, die Verwandten blicken gerührt. Auch ich bin auf den Fotos zu sehen, als Blumenkind, mit blauem Organzakleidchen und Kränzchen im Haar, gemeinsam mit
Weitere Kostenlose Bücher