Zuhause ist ueberall
und anderen frommen Gegenständen gefüllten Wohnung, ihre Tochter Mimse machte sich die größten Sorgen um sie. Als sie es dann endlich zu ihrer Mutter schaffte, war sie zunächst sprachlos. Um Tante Irma drängten sich mehrere Sowjetsoldaten, sie brachten ihr Lebensmittel, die sie vermutlich woanders gestohlen hatten, und verneigten sich ehrfürchtig vor den Heiligenbildern. Bauernjungen vom Land, die sie waren, erinnerte sie die alte Frau wahrscheinlich an die Babuschkas zu Hause mit ihren Ikonen. Tante Irma triumphierte. Ein Wunder. Oder doch ein Beinahe-Wunder.
Irgendwann freilich holt das 20. Jahrhundert auch diese Enklave einer vergangenen Epoche ein. Als in Deutschland Hitler an die Macht kommt und die Sudetendeutschen unruhig werden, teilen sich auch unter den böhmischen Herren die Geister. Spätestens nach dem Münchner Abkommen und erst recht nach dem Einmarsch der deutschen Truppen kann man nicht mehr, wie früher, böhmischer Patriot sein, ungeachtet der Sprache, die man spricht. Jetzt muss man wählen zwischen tschechisch und deutsch. Auch unter den Aristokraten gibt es plötzlich Tschechen und Deutsche.
Während der Sudetenkrise 1938, als bereits der Anschluss der deutschsprachigen Gebiete an Hitlerdeutschland droht, erscheint eine Delegation des böhmischen Adels bei Präsident Edvard Beneš und überreicht ihm ein Manifest, das sich für die Unverletzlichkeit der alten Grenzen und die Einheit der böhmischen Kronländer ausspricht. Die Treue des deutschsprechenden Adels zum tschechoslowakischen Staat wird unterstrichen. Mitglieder der historischen Familien des Landes sind dabei, Schwarzenberg, Kinsky, Czernin, Lobkowicz und andere.
Aber nicht alle sind damit einverstanden. Es gibt auch Aristokraten, die für den Anschluss sind. Oft geht der Riss mitten durch die Familien und entzweit Menschen, die ein Leben lang befreundet waren. Viele reden auf einmal in der Öffentlichkeit, aus Prinzip und aus Nazi-Gegnerschaft, demonstrativ tschechisch, auch wenn sie die Sprache nicht besonders gut können. Noch ein deutsches Wort, und du kriegst eins hinter die Ohren, hören wir einen Verwandten zu seinem verblüfften Sohn sagen. Ein neues Zeitalter beginnt.
Die Coudenhoves
Meine andere Großmutter Mitsuko Coudenhove-Kalergi liegt auf dem Hietzinger Friedhof in Wien in unserer Familiengruft begraben. Wenn wir zu Allerseelen hingehen, finden wir manchmal ein Fläschchen mit Sojasauce auf dem Grabstein. Das ist in Japan so üblich. Dann wissen wir, dass ein japanischer Tourist hier gewesen ist und seiner Landsfrau seine Aufwartung gemacht hat. In ihrer japanischen Heimat ist Mitsu nämlich eine bekannte Persönlichkeit: die erste Japanerin, die nach der Öffnung des Landes zum Westen nach Europa gegangen ist.
Es gibt mehrere Bücher über Mitsu, einen Film, eine mehrteilige Fernsehserie, einen Comicstrip und sogar ein Musical. Mitsu ist darin eine Art fernöstliche Sisi, eine romantische Gestalt im europäischen Dekor der Jahrhundertwende. Als ich einmal, eingeladen vom japanischen Fernsehen, in Tokio war, wurde ich von mehreren jungen Journalistinnen interviewt, die in meiner Großmutter ein feministisches Rollenmodell sahen. Eine Frau, die es wagte, die Konventionen ihrer Zeit zu überwinden, ihrer Liebe zu folgen und als kühne Pionierin in ein fernes Land aufzubrechen. Ich habe Mitsu nicht gekannt. Aber ich denke, dass ihre Geschichte nicht ganz so rosig und strahlend ist wie ihre Legende. Und dass sie wohl kein glückliches Leben hatte.
Die Geschichte beginnt in den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts in Tokio. In der österreichisch-ungarischen Gesandtschaft residiert ein junger Geschäftsträger, mein Großvater Heinrich Coudenhove-Kalergi. Eines Tages reitet er aus. Es ist Winter, es herrscht Glatteis, sein Pferd rutscht aus, und der Diplomat liegt auf der Nase, just vor einem Antiquitätenladen. Das Geschäft gehört Mitsus Vater. Die blutjunge Mitsu läuft hinaus, sie hat noch nie einen Ausländer gesehen und sieht neugierig zu, wie die Langnase sich aufrappelt. Der Reiter ist verletzt, Mitsu hilft, ein Arzt wird geholt. Aber der Fremde hat das Mädchen beeindruckt. Und dieses ihn.
Der Kunsthandel in Japan blüht in jenen Jahren. Das Land ist im Umbruch. Vor noch nicht einmal einer Generation hat Japan nach 750 Jahren Feudalherrschaft das alte System beendet und ein rapides Modernisierungsprogramm eingeleitet. Die abgesetzten Feudalherren haben ihr Einkommen verloren und müssen ihre
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