Zuhause ist ueberall
Mehl kommt.
Kein Luxus also. Personal freilich gibt es in Hülle und Fülle. An der Spitze steht Herr Dostálek, der Majordomus und Erste Kammerdiener, für uns Kinder eine Respektsperson. Mein Großvater nennt ihn Dostálek, für uns ist er selbstverständlich Pàn Dostálek. Als die Großeltern später aus Breznitz vertrieben werden und zuerst Großpapa und dann auch Großmama verhaftet werden, ist es Herr Dostálek, der diese höchstpersönlich in den Gemeindekotter begleitet, korrekt mit Regenschirm und weißen Zwirnhandschuhen. Perfekter Butler bis zum Schluss. Diese Zwirnhandschuhe trägt er auch, während er beim Essen serviert, unterstützt vom Zweiten Kammerdiener, der schlicht Vinca (Vinzenz) heißt.
Zu dessen Aufgaben gehören unter anderem das Silberputzen und das Schuheputzen. Darin ist Vinca ein Meister. Er lehrt die Buben, wie man richtig Schuhe putzt: zuerst bis aufs letzte Stäubchen reinigen. Dann die Schuhpasta auftragen. Dann, und das ist das Geheimnis, kräftig draufspucken und schließlich die Schuhe polieren, bis sie glänzen, zuerst mit einer weichen Bürste und dann mit einem Stück Rehleder. Mit diesem Unterricht ist wiederum mein Vater höchst einverstanden, denn zu seinen Lebensmaximen gehört es, dass ein Herr zwar eine abgewetzte Jacke anhaben kann, aber niemals nachlässig geputzte Schuhe.
Die Dostáleks haben eine kleine Wohnung im Erdgeschoss. Das ist der Zufluchtsort von Michi, wenn »oben« wieder einmal dicke Luft herrscht. Pani Dostálkovà ist eine herzensgute Seele, die nicht nach Manieren und Disziplin fragt, sondern Michi gibt, was er am meisten braucht, Liebe und Wärme. Sie verwöhnt ihn nach Strich und Faden. Miláčku, sagt sie dann, du brauchst nicht zu weinen. Und füttert ihn mit selbstgebackenen Buchteln. Dann ist alles gut. Es gibt auch einen Sohn in der Familie Dostálek, einen großen Buben namens Pepík. Er bringt mir das Radfahren bei, etwas herablassend zwar, aber doch.
Die Köchin, die in der Riesenküche, auch im Erdgeschoss, ihr Reich hat, ist ebenfalls Pani, während die Küchenmädchen und Stubenmädchen nur Vornamen haben.
Eine Persönlichkeit mit eigenem Status ist Slečna (Fräulein) Mari, eine majestätische Erscheinung, Großmamas pensionierte Kammerjungfer. Sie residiert in einem Zimmer, das nur über eine eiserne Wendeltreppe zu erreichen ist, ein Mädchen serviert ihr dort täglich ihre Jause. Es ist ein Privileg, Slečna Mari in diesem Zimmer zu besuchen. Auf der Kommode hat sie ihre Schätze ausgestellt: die Fotos der inzwischen erwachsenen Herrschaftskinder, sorgfältig gerahmt, alle Postkarten, die diese ihr im Lauf der Jahre aus Seebad Grado an der Adria geschickt haben, und, das Schönste, eine kleine Schachtel mit einem Deckel aus Muscheln, ein Mitbringsel aus Venedig. Darin bewahrt Slečna Mari Knöpfe auf. Diese Schachtel ist für mich lange Zeit der Inbegriff von allem, was schön und kostbar ist.
Mit dem Städtchen Breznitz haben wir nicht viel zu tun. Man erreicht es über eine steinerne Brücke, die den Fluss Vlčava überquert. Eine Miniversion der Prager Karlsbrücke. An ihrem Ende wacht ein steinerner Johannes von Nepomuk. In der Nähe des Flusses liegt das alte Judenghetto, ein kleiner Platz mit einer Synagoge in der Mitte, rundherum die Judenhäuser. Die einstigen Bewohner sind schon lange weg. Lange vor unserer Zeit. Wir wissen als Kinder gar nicht, dass es dieses Ghetto überhaupt gegeben hat.
Auf dem Hauptplatz steht die große Barockkirche, in die wir sonntags freilich nicht gehen. Den Pfarrer grüßen wir höflich mit »důstojný pán«, hochwürdiger Herr. Unsere Messe findet in der Schlosskapelle statt, und wir wohnen ihr im Oratorium bei, einer Galerie, die direkt vom Speiszimmer aus zu erreichen ist. Ein blinder Organist spielt die Orgel, und die Buben dürfen die Register treten.
In der Messe steht man oder kniet auf der mit grünem Rips bezogenen Kniebank, die sich um die ganze Rampe zieht. Sessel gibt es nur an ihren Seiten, je einen für Großpapa und Großmama. Jeder Sessel samt Kniebank steht in einer Art kleiner Loge, durch ein Türchen zu betreten. Wir Kinder stehen oder knien vorn, hinter uns stehen die Gäste und die Dienstboten. Schön ist diese Sonntagsmesse, aber auch eine ziemliche Mühsal. Man schaut auf die goldenen Engel und Heiligen hinunter ins Kirchenschiff, singt die langgezogenen, etwas wehmütigen tschechischen Kirchenlieder mit, versucht andächtig zu sein, träumt vor sich hin und freut
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