Zuhause ist ueberall
Serenyi, Tante Greteleins Mann. Tante Mamie hat selbst nach Jahren in Böhmen ihren amerikanischen Akzent behalten. Sie ist im Wilden Westen geboren, heißt es, und hat als Kind noch erlebt, wie Indianer die Farm ihrer Eltern in Flammen setzten.
Wieder ein Link tief ins 19. Jahrhundert hinein! Tante Mamie Serenyi erinnert sich an die Indianerkriege in den USA, Tante Marinka Waldstein an den österreichisch-preußischen Krieg in Böhmen. Noch heute fasziniert es mich, wie nah die Vergangenheit ist, die uns andererseits so fern scheint. Von meinem Vater habe ich das Spiel gelernt: Wie viele Handschläge zwischen mir und Kaiser Franz Joseph? Zwischen mir und Lenin? Zwischen mir und Ludwig XIV.? Erstaunlich wenige. Zwischen mir und Ludwig XIV. – immerhin 17. Jahrhundert! – sind es beispielsweise nur sieben. Es hat damit zu tun, dass sehr alte Männer sehr junge Frauen heirateten und daher die Generationen übersprungen wurden.
Aber auch abgesehen von Tante Mamie scheint es mir manchmal, als sei in jenen böhmischen Schlössern meiner Kindheit die Zeit stehengeblieben. Das zeigt sich nicht zuletzt in der Sprache, die hier gesprochen wird. Großmama beispielsweise benutzt, wie im 18. Jahrhundert, nach wie vor die dritte Person, wenn sie mit ihren Kindern und Enkeln spricht. Hol Er mir doch bitte meine Brille. Wie geht’s Ihr denn heute, Sie schaut aber blass aus. Hat Er sich gestern amüsiert? Erzähl Sie mir, was es Neues gibt. Es zieht, mach Er doch das Fenster zu.
Ebenfalls wie im 18. Jahrhundert ist das Französische überall gegenwärtig. Auch noch meine Mutter spricht von »Courmachern« (Verehrern) und vom »montiert« (verliebt) sein. Wer sich schön herausputzt, sieht »pimpant« aus, und wer einem auf die Nerven geht, ist »agaçant«. Ein Fahrrad ist ein »Bicycle« und ein Regenschirm ein »Parapluie«. Sogar die Grammatik ist französisch angehaucht. Kinder, disputiert’s euch nicht, mahnt Großmama. Oder auch: Die Willy ist so gut für mich, wenn gemeint ist: Sie ist so gut zu mir. Ist es der Einfluss der allgegenwärtigen französischen Gouvernanten? Oder ein Relikt aus einer Zeit, als der Adel noch an der Spitze der Gesellschaft stand und die man nicht loslassen will? Bei jüngeren und moderneren Leuten ist inzwischen jedenfalls schon das Englische in Mode. Hier spricht man von Weekends, trägt Tennismatches aus und hat Flirts. Und für die Kinder engagiert man keine französische Gouvernante, sondern eine englische Miss.
Was man tut und nicht tut, gehorcht einem ungeschriebenen Gesetz, auch was man sagt oder nicht sagt. Es ist beispielsweise »portierisch«, von einer Toilette zu sprechen. Das »unsereinische« Wort für diesen Ort heißt Häusl. Auf eine Heiratsanzeige zu schreiben: »Wir haben geheiratet!«, und darunter die Namen der Neuvermählten ist ebenfalls portierisch. Unsereinische Anzeigen führen auf der einen Seite streng protokollarisch die Eltern auf, die die Heirat ihres Sohnes anzeigen, und auf der anderen die Eltern der Braut mit dem gleichlautenden Text für die Tochter. Natürlich ist man katholisch und hat mehrere Kinder. Man lässt sich tunlichst auch nicht scheiden, wenn schon Untreue, dann hat man besser eine Liebschaft. Eine solche hatte irgendwann in ferner Vergangenheit auch Großpapa. Die Fama sagt, dass er drauf und dran war, mit einer Geliebten in sein geliebtes Afrika zu verschwinden. Seine fromme Schwester, Tante Irma Lobkowicz, soll ihm das in letzter Minute ausgeredet haben. Das ist durchaus glaubhaft, denn Tante Irma ist äußerst überzeugend. Sie ist meine Firmpatin. Ich habe sie mir für diese Funktion ausgesucht, in der Hoffnung, dass etwas von ihrer legendären Frömmigkeit auf mich übergeht. Als ich dann freilich statt der heimlich erhofften Uhr nur irgendetwas Frommes als Geschenk bekomme, ist das doch eine Enttäuschung.
Tante Irma ist eine Verehrerin der Mutter Gottes von der Rue du Bac, einer Marienerscheinung in Paris, die in der Öffentlichkeit weniger bekannt ist als die von Lourdes oder Fatima. Aber unsere Tante – eigentlich: Großtante – schwört auf »die Rue du Bac« und macht für sie Propaganda, wo sie kann. In der ganzen Verwandtschaft verteilt sie kleine Medaillen mit dieser speziellen Madonna. Wir Kinder tragen sie alle an Kettchen um den Hals.
Ihren größten Erfolg erzielten Tante Irma und die Rue-du-Bac-Muttergottes Jahre später beim Einmarsch der Sowjetarmee in Wien. Die Erstere war allein in ihrer natürlich mit Marienbildern
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