Zuhause ist ueberall
sich aufs Frühstück. Das findet sonntags im Speiszimmer statt, und wir dürfen, anders als an Werktagen, auch dabei sein.
Und was lesen wir in diesen langen, ziemlich ereignislosen Sommern? Großpapa liest die Zeitschrift Wild und Hund . Großmama liest »Die Heilige und ihr Narr« von Agnes Günther. Ich durchsuche die kleine Bibliothek nach Lesbarem für Kinder, aber meine Ausbeute ist mager. Die Bände der »bibliothèque rose« sind französisch, das kann ich nicht lesen. Es gibt eine Serie von Missionsgeschichten, aus dem Französischen übersetzt, in denen tapfere französische Missionare Heiden in fremden Ländern zum wahren Glauben bekehren. Eine Geschichte, die mir großen Eindruck macht, heißt »In den Wellen getauft«. Sie spielt in China, ein böser reicher Chinese lässt einen kleinen Chinesenbuben und einen Missionar in seinen Fischteich werfen, mit dem Ruf: »Zu den Muränen und Hechten!« Die Muränen sind ekelhafte Fische, die die beiden in Blitzesschnelle bis aufs Skelett abnagen. Aber vorher schafft es der Missionar noch, den Buben in den Wellen zu taufen.
Fast alles in Breznitz ist ungemein unpraktisch und beruht auf der Tatsache, dass die Arbeit von dienstbaren Geistern erledigt wird. Küche und Speiszimmer liegen weit voneinander entfernt. Das Essen wird durch einen Speisenlift, der mit einer Seilwinde bewegt wird, aus der Küche in den ersten Stock befördert, Herr Dostálek und Vinca nehmen die Schüsseln oben in Empfang und tragen sie noch ein gutes Stück vom Gang, wo sich der Lift befindet, ins Speiszimmer. Geheizt wird mit Holz, das von irgendwo über viele Stiegen zu den jeweiligen Öfen geschleppt wird. Wenn man morgens im Bett liegt, hört man im Halbschlaf, wie jemand einheizt. Das Holz beginnt langsam zu knistern, und das kalte Zimmer füllt sich allmählich mit köstlicher Wärme.
Stiegen sind überall. Alle Zimmer scheinen auf verschiedenen Ebenen zu liegen und mit Stufen und Stiegen verbunden zu sein, hölzernen, steinernen, eisernen. Hinter unseren Kinderzimmern ist die sogenannte Hendlstiege, schmal und steil und geeignet für allerlei Spiele. Ein Wunder, dass sich auf ihr noch niemand den Hals gebrochen hat. Es gibt die »unheimliche Stiege«, die von Großpapas Schreibzimmer hinunter in den Garten führt. Sie ist immer dunkel, auf einem Treppenabsatz steht aus unerfindlichen Gründen ein hölzerner Kopf, der einmal wohl als Hutständer gedient hat. Im Dämmerlicht leuchtet er einem grauweiß entgegen, wenn man von unten heraufkommt. Ich fürchte mich vor dieser Stiege und nehme lieber einen großen Umweg in Kauf, wenn ich hinaufgeschickt werde, um irgendetwas zu holen.
Unheimlich ist so manches in Breznitz. Der Teich zum Beispiel, ein kleines stilles Gewässer im Garten, umstanden von tiefhängenden Trauerweiden und oft bedeckt von Wasserlinsen. In der Mitte liegt eine winzige Insel, die man mit einem grünen Kahn, der vertäut am Ufer liegt, erreichen kann. Schön ist es am Teich, aber die Hausmädchen sagen, dass hier der Vodník wohnt, der Wassermann. Der Vodník ist kein schlechter Kerl, aber er ist einsam, und manchmal steigt er aus dem Wasser und holt sich zur Gesellschaft kleine Mädchen hinunter in sein wässriges Reich.
Das sind die Geschichten, die man als Kind halb glaubt und halb nicht glaubt. Man will sie glauben, weil sie zur verzauberten Welt gehören, in der man lebt und in der die Grenzen zwischen Märchen und Wirklichkeit ineinander fließen. Man will sie nicht glauben, weil sie einen erschrecken und man sich gern den Fluchtweg zur vertrauten und sicheren Alltagswelt offenlassen will. Wenn man sie endgültig nicht mehr glaubt, ist die Kindheit vorbei.
Die Pálffys
Die Großeltern Pálffy haben vier Kinder, und diese haben wieder Kinder, sodass eine große Familie zusammenkommt. Das Thema Familie spielt denn auch eine große Rolle, nicht nur bei uns, sondern bei allen Verwandten und Bekannten der Eltern. Ständig ist davon die Rede, wer ein Kind bekommen hat, wer gestorben ist, wer geheiratet hat. Wen geheiratet?, wird dann gefragt. Ist sie jemand? Gemeint ist: Ist sie eine von uns? In dieser Hinsicht, stelle ich später fest, ähneln die Aristokraten sehr den Juden, bei denen es genauso ist.
Ich kann Familiengespräche nicht leiden. Ich finde sie grenzenlos langweilig, und mit beginnender Pubertät fühle ich mich über derlei erhaben. Geschichten, finde ich, sollen um ihres Inhalts willen erzählt werden und nicht deshalb, weil sie Verwandte und
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