Zuhause ist ueberall
Schriftzeichen lesen und kalligraphieren gelernt. Sie hatte rechnen gelernt auf hölzernen japanischen Rechenmaschinen. Ihre Eltern hatten ihr die Grundgedanken des Buddhismus beigebracht und die Moral des Konfuzius. Sie hatte auch gelernt, wie Japan von der Sonnengöttin geschaffen wurde, der Ahnfrau des Mikado. Sie lauschte unzähligen Legenden von Helden und Heiligen, von Geistern und Nymphen, lernte ihre Ahnen verehren und heilige Schreine besuchen. Als kleines Mädchen lernte sie mit ihren ungewöhnlich schönen und geschickten Händen die uralte Kunst des Blumenbindens und spielte zwei nationale Instrumente, eine Art große Gitarre und eine japanische Mandoline. Im Osten gilt Höflichkeit als Kardinaltugend. Diese Tugend übte Mitsu in Wort und Geste: die Kunst, sich zu kleiden, anmutig in kniender Stellung zu sitzen, zu lächeln, zu stehen, sich zu verbeugen. Sie lernte die größere Kunst, ihre Gefühle zu verbergen, Achtung zu zeigen vor Höhergestellten und Älteren, stets sanft zu sein, freundlich und geduldig. Immer wieder wurde ihr eingeschärft, dass die Frau zum Gehorsam geboren sei, erst ihrem Vater gegenüber, dann ihrem Mann und schließlich ihrem ältesten Sohn.« So weit Onkel Dicky.
Und was sagte Mitsukos Familie zu deren ungewöhnlicher Heirat? Wiederum Dickys Quelle, der japanische Kulturhistoriker Ki Kimura: »Mitsukos Vater, Kichatschi Aoyama, war ein eingefleischter Konservativer. Er weigerte sich, seinen Haarknoten abschneiden zu lassen, und trug bei festlichen Gelegenheiten am liebsten seinen Kamischima, das traditionelle Gewand der Samurais. Mitsuko heiratete gegen den Willen ihres Vaters. Kichatschi seufzte: Wie kann ich Worte der Entschuldigung meinen Ahnen gegenüber finden, dass ich mir eine Tochter der ehrenwerten Familie Aoyama habe entreißen lassen durch einen fremdländischen Teufel?«
Mitsu mit ihren Kindern Olga (im Arm), Hansi, Dicky, Rolfi, Elsa (Ida und Ery sind noch nicht geboren), zirka 1900
Da mag schlechtes Gewissen mitgespielt haben. Denn der fremdländische Teufel hatte sich erkenntlich gezeigt und seiner Brautwerbung mit einem großzügigen finanziellen Beitrag nachgeholfen. Schließlich ließ Vater Kichatschi sich erweichen und gab dem Bund seinen Segen. Noch heute erinnere ich mich an die japanischen Spielsachen, Samurai-Ritter für die Buben und Geisha-Puppen für die Mädchen, die die Aoyamas ihren Enkelkindern nach Europa schickten. Einige überlebten bis in unsere Kinderzeit.
Wie es Mitsu weiterhin erging, wissen wir aus ihrem Tagebuch. Japanische Fernsehleute haben es Jahrzehnte später in Ronsperg aufgespürt, dessen Besitzer längst vertrieben waren. Ein japanischer Autor hat daraus ein Theaterstück gemacht. Es ist ein Einpersonenstück. Eine Schauspielerin steht allein auf der Bühne, die gealterte Mitsu darstellend, die ihrer Tochter Olga aus ihrem Leben erzählt. Ich habe das Stück gesehen, in einer sehr guten Aufführung, die in japanischer Sprache im Schönbrunner Schlosstheater in Wien gezeigt wurde. Den Text hörten wir über Kopfhörer in deutscher Übersetzung.
Es ist eine ziemlich erschütternde Geschichte. Mitsu erzählt, wie sie nach langer und aufregender Reise durch Italien, nach einem Aufenthalt in Wien, in Ronsperg ankommt. Alles ist fremd. Sie geht durch einen langen Gang. Hinter ihr öffnen sich viele Türen, fremde – wie sie meint: feindselige – Augen blicken ihr nach. Sie lernt Deutsch, gleichzeitig mit ihren Kindern. Hansi, ihr Ältester, fragt sie etwas. Sie kann ihm keine Antwort geben. »Da trifft mich ein verächtlicher Blick«, erzählt Mitsu. »Ein Blick aus blauen Augen. Den Augen eines Fremden.« Eines Fremden? Das eigene Kind? Ihren Mann liebt sie nach wie vor. »Mein Gentleman« nennt sie ihn. Was sie am liebsten tut: ihm seinen Tee in sein Arbeitszimmer bringen, ihm zuschauen, wie er im Schein der Lampe an seinem Schreibtisch sitzt, arbeitend, lesend oder schreibend. Und dann passiert das Schreckliche: Heinrich, noch nicht fünfzigjährig, stirbt im Jahre 1906 an einem Herzinfarkt. Sie bleibt mit sieben kleinen Kindern allein zurück.
Schutzumschlag der Buchausgabe von Heinrich Coudenhove-Kalergis Studie »Das Wesen des Antisemitismus«, Leipzig/Wien 1932
Mein Großvater muss ein bemerkenswerter Mann gewesen sein. Er spricht viele Sprachen, hat die halbe Welt bereist. Seit seiner Rückkehr nach Ronsperg hat er sich als Privatgelehrter etabliert. An der Prager Universität macht er sein Doktorat in Philosophie und
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