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Zuhause ist ueberall

Zuhause ist ueberall

Titel: Zuhause ist ueberall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Coudenhove-Kalergi
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semitischer Philologie. Seine Interessen sind unkonventionell: Als Doktorarbeit verfasst er eine kritische Studie über »Das Wesen des Antisemitismus«, die sein Sohn Dicky später als Buch herausgibt. Er sei in seiner Jugend selbst Antisemit gewesen, schreibt der Autor, habe aber »durch Studium« seine Meinung geändert. Sigmund Freud liest es und sagt kurz vor seinem Tode, das sei eines der besten Bücher, die je zu diesem Thema erschienen sind.
    In Wien regiert zu dieser Zeit der antisemitische Bürgermeister Karl Lueger. Eine wissenschaftliche Abhandlung über die Wurzeln dieser Ideologie ist im Österreich jener Zeit ein Novum. Und ein Tabubruch ist es auch, dass der Patronatsherr der Ronsperger Pfarre an jedem Karfreitag demonstrativ die Kirche verlässt, wenn in der Liturgie bei den Fürbitten das Gebet für die Juden an der Reihe ist: »Oremus et pro perfidis Judaeis.« Heinrich findet, das sei eine Anstachelung zum Antisemitismus. Tatsächlich waren dieser Tag und diese Fürbitte in der Vergangenheit oft der Ausgangspunkt für blutige Pogrome. Erst viele Jahrzehnte später schafft Papst Johannes Paul II. diese Fürbitte ab.
    Heinrich schreibt eine weitere Broschüre, ebenfalls ablehnend, über das Duell, mit dem Titel »Der Minotaur der Ehre«. Das Duell ist in Österreich-Ungarn zwar offiziell verboten, in der Armee aber nach wie vor gang und gäbe. Heinrich legt sich mit seiner Kampfschrift mit seinesgleichen an. Seine Charge als Reserveoffizier bei den Dragonern legt er deshalb zurück.
    Aber Kavallerieoffiziere sind ohnehin nicht sein Umgang in Ronsperg. Längere Zeit wohnt ein gelehrter indischer Moslem im Hause, der dort einen für den Westen bestimmten Sammelband »The Sayings of Mohammed« zusammenstellt. Der Rabbi von Pilsen, ebenfalls ein gelehrter Mann, ist oft in Ronsperg zu Gast, ebenso wie der gebildete und aufgeschlossene Pfarrer von Ronsperg. Heinrich interessiert sich für die verschiedenen Religionen und das, was sie gemeinsam haben. Die damals beachtliche und wohlhabende jüdische Gemeinde von Ronsperg dankt es ihm und schickt ihm zu Weihnachten jedes Jahr eine köstliche Gänseleber.
    Verschiedene Religionen gibt es auch beim Personal. Majordomus und Vertrauter des Hausherrn ist ein hünenhafter Armenier namens Babik Kaligian, dem Heinrich, als er der österreichisch-ungarischen Gesandtschaft in Konstantinopel zugeteilt war, während eines Armenier-Pogroms das Leben gerettet hat. Seither ist Babik, den mein Vater als guten Geist des Hauses in Erinnerung hat, seinem Herrn in unverbrüchlicher Treue verbunden. Auch von ihm gibt es ein Foto: ein respektgebietender Riese in traditioneller Kleidung, den Fez auf dem Kopf. Nach Heinrichs Tod kauft Babik sich eine Grabstelle neben dessen Grab, weil er unbedingt an dessen Seite begraben sein will. Als er auf dem Sterbebett erfährt, dass ihm das als nichtkatholischem Christen nicht gestattet ist, konvertiert er zum katholischen Glauben. Und bekommt seinen Wunsch erfüllt.
    Aber im Leben meines Großvaters gibt es auch eine dunkle Episode. Als blutjunger Leutnant hat er in Paris eine Liebesgeschichte mit einer Französin angefangen. Sein Vater erfährt davon und expediert seinen Sohn umgehend ans andere Ende des Kontinents, in die Bukowina. Dort soll er an der neugegründeten Universität Czernowitz studieren. Aber die Geliebte in Frankreich ist schwanger. Sie bringt einen Sohn auf die Welt, der noch im Kindesalter stirbt. Und fährt dann, gemeinsam mit einer Freundin, nach Österreich. Vor dem Schloss Ottensheim in Oberösterreich, das damals der Familie Coudenhove gehört, begehen die beiden jungen Frauen Selbstmord. Sie erschießen sich vor den Fenstern des Mannes, der mit seinem Eingreifen das Glück zweier Liebender zerstört hat. Ein Schock, von dem sich Heinrich nie erholt hat. Und vielleicht auch ein Grund, warum er später seine künftige Frau im fernen Asien sucht.
    Jahrzehnte später nehme ich, mehr aus Neugier als aus echter Überzeugung, an einer Familienaufstellung teil. Ich möchte ein wenig Klarheit in mein kompliziertes Verhältnis zu meinem Vater bringen. Aber die Psychologin, die uns anleitet, will, dass wir auch die entfernteren Familienmitglieder aufstellen, inklusive aller unehelichen Verhältnisse. Ich habe mich nie besonders für die Amouren meiner Großeltern interessiert. Und ich neige auch keineswegs zu emotionalen Ausbrüchen. Aber als die Gruppenmitglieder Aufstellung genommen haben, breche ich plötzlich in Tränen

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