Zuhause ist ueberall
trägt er als Theresianist des Kaisers Uniform. Nimmt das Grammophon und schleudert es, während sich die Schallplatte noch dreht, zum Fenster hinaus.
Elsa, die vierte in der Geschwisterabfolge, habe ich nie kennengelernt. Sie geht in den Dreißigerjahren nach Frankreich und stirbt Mitte dreißig in Paris. Sie ist die Lieblingsschwester meines Vaters und muss eine reizende Frau gewesen sein, klug, bescheiden und von selbstloser Güte. Sie hat nicht viel Geld, aber was sie hat, teilt sie mit ihren Freunden. Ihre kleine Pariser Wohnung steht allen Emigranten offen. Ausdrücklich auch den unsympathischen. Jemand, meint sie einmal, muss schließlich auch für die Unsympathischen da sein.
Onkel Richard, genannt Dicky, Gründer der Paneuropa Union, 1933
Olga gilt unter den vielen gescheiten Geschwistern als die Dumme. Aber sie ist auch die Treueste. Als Einzige der Sieben verlässt sie nicht bei der ersten Gelegenheit das Elternhaus, sondern bleibt bei ihrer verwitweten Mutter, zieht mit dieser von Böhmen nach Mödling bei Wien und pflegt sie dort bis zu deren Tod.
Dann kommt Ida, ein hochbegabtes Mädchen, das als Kind besonders an den Unzulänglichkeiten ihrer überforderten Mutter leidet. Seit der Vater tot ist, schreibt sie später, ist das geistige Leben im Hause zu einem abrupten Ende gekommen. Wir sind mit den Büchern der vorangegangenen Generation aufgewachsen, mit Ibsen und Strindberg. Unsere Mutter hat uns nicht erziehen können, wir haben einander gegenseitig erzogen.
Ida kommt nach der Schulzeit im Klosterinternat nicht mehr nach Hause zurück und schlägt sich allein durch. Sie schließt sich früh der katholischen Jugendbewegung an und ist in den Dreißigerjahren in Deutschland eine Vordenkerin des Aufbruchs in der katholischen Kirche. Ida studiert Theologie, macht eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin und heiratet einen Rheinländer namens Carl Josef Görres. Sie publiziert unter dem Namen Ida Friederike Görres, hält Vorträge, führt Jugendgruppen. Sie und ihre Bücher, darunter eine Biographie von Teilhard de Chardin und eine von Franz von Assisi, haben für mich als junges Mädchen eine prägende Wirkung. Was macht denn die Ida?, werden ihre Brüder damals oft gefragt. Ihre Antwort: Die Ida ist ein Mittelding zwischen einer Hebamme und einem Kaplan.
Onkel Karl Heinrich, genannt Ery
Und schließlich, als Jüngster, Ery. Er war einer der liebsten Menschen in meinem Leben. Sein Foto hängt neben meinem Schreibtisch, zusammen mit anderen Bildern von Menschen, die ich meine heimlichen Heiligen nenne. Auch Ery, damals noch Student, auch er mit einer jüdischen Freundin, kann die Nazis nicht leiden und geht gleich nach dem »Anschluss« Österreichs ans Deutsche Reich mit seiner nunmehrigen Frau in die Emigration, zuerst nach Australien, dann nach Paris, nach Griechenland, schließlich in die Schweiz. Geld hat er nie. Von den Geschwistern ist nur Hansi, der Grundbesitzer, wohlhabend. Mitsuko, ahnungslos und kaisertreu, hat zu Beginn des Ersten Weltkriegs im großen Stil Kriegsanleihen gezeichnet. Nachher ist das Vermögen weg und damit auch das Erbteil der Jüngeren. Die anderen schlagen sich recht und schlecht durch, aber Ery, mit einem abgebrochenen Medizinstudium und keinem richtigen Beruf, bleibt sein Lebtag ein armer Teufel. Zeitweise sogar ein bitterarmer. Er und seine Frau Anita, eine Bildhauerin und Schmuckkünstlerin, leben im Exil prekär, oft mit zweifelhafter Aufenthaltsbewilligung und zweifelhaften Jobs, immer wieder von Delogierung und Deportation bedroht.
Was sie rettet, sind ihre vielen Freunde. Ery wird geliebt und verehrt von allen, die ihn kennen. In den Fünfzigerjahren besuche ich gemeinsam mit meiner Freundin Gilli meinen Onkel in seinem damaligen Aufenthaltsort, in Kalamaki. Das ist ein Vorort von Athen. Ery und Anita leben in einem winzigen weißen Häuschen am Strand, wenig mehr als ein weißgestrichener Würfel. Sie haben 17 Katzen, zwei Hunde, eine Schildkröte, eine zahme Dohle und ein Glas voller Frösche. Ery lebt von Übersetzungen, Anita holt glattgeschliffene Steine, Holz- und Glasstücke aus dem Meer und macht daraus Schmucksachen. Erst sehr viel später hat sie damit Erfolg und bestreitet Ausstellungen in mehreren europäischen Städten.
Wir zwei Mädchen sind überrascht und sofort begeistert, als wir zum ersten Mal ihr Hexenhäuschen betreten. Es ist mehr als bescheiden. Ery, der uns noch nie im Leben gesehen hat, empfängt uns, wie er alle empfängt, herzlich wie
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