Zuhause ist ueberall
Staatsdienst zu »entösterreichern«, auf einen wie ihn hatte niemand gewartet. Eine Karriere im Wirtschaftsleben kam nicht in Frage. »Man« machte keine Geschäfte. Unser Vater studierte Rechtswissenschaften und nebenher Japanisch an der Prager deutschen Universität und trat alsbald in die Dienste der japanischen Gesandtschaft in Prag. Jetzt hatte er wenigstens wieder einen Kaiser als obersten Dienstherrn.
Aber auch damit ist es aus, als die Deutschen kommen und die japanische Gesandtschaft nach Berlin verlegt wird. So nimmt unser Vater das Angebot an, unter dem Reichsprotektor von Neurath in dessen Presseabteilung zu arbeiten, wo er die ausländischen Zeitungen lesen und darüber Berichte anfertigen muss. Aber schon bald wird Neurath, weil er angeblich »zu weich« mit den Tschechen ist, vom SS-Hardliner Reinhard Heydrich abgelöst. Auch Neuraths Stab geht mit ihm, und Heydrichs Leute, fanatische Nazis, ziehen auf dem Hradschin ein. Nichts für Papi. Als bald darauf der Krieg ausbricht, meldet er sich, wiewohl schon über vierzig, zur Wehrmacht. Er hat sich zuvor vergewissert, ob er als Halbjapaner überhaupt »wehrwürdig« ist, und ist erleichtert, als eine positive Antwort eintrifft. Er kommt zuerst nach Brüssel und nach dem deutschen Einmarsch in die Sowjetunion als Russisch-Dolmetscher nach Russland, in den Kaukasus. Dorthin hat er sich freiwillig gemeldet. Als Besatzer in Belgien hat er sich nicht wohl gefühlt, aber gegen die Bolschewiken zu kämpfen findet er in Ordnung.
Wir hatten abends täglich gebetet: »Lieber Gott, beschütze den Papi in Brüssel.« Jetzt muss es heißen: »… den Papi in Russland.« Aber weil jemand einmal versehentlich sagt: »… in Br… in Russland«, lautet das Abendgebet fortan: »… beschütze den Papi in Brussland.« In meiner Vorstellungswelt ist der kriegerische Aufenthaltsort meines Vaters nun Brussland, ein besonderes Land mit hohen Bergen und weiten Ebenen, eher romantisch als schrecklich und gefährlich.
Ich bin nun also ein deutsches Mädel und ab meinem zehnten Geburtstag auch ein deutsches Jungmädel. Der Jungmädelbund ist die HJ-Formation für die zehn- bis vierzehnjährigen Mädchen. Bei den Buben heißt das Pendant dazu Jungvolk, und dessen Mitglieder heißen Pimpfe. Alle Mädchen aus meiner Klasse werden kollektiv übernommen. Eine Uniform wird angeschafft, eine weiße Bluse und ein blauer Rock, der bei den kleinen Mädchen mangels Taille mit Knöpfen an die Bluse angeknöpft werden muss. Eine ziemlich unpraktische Methode, weil die Knöpfe oft abreißen. Die braune sogenannte Kletterweste tragen wir lieber als den blöden Knöpflrock, am Oberarm das schwarze »Gebietsdreieck« mit der weißen Frakturschrift »Böhmen und Mähren«. »Tuch und Knoten«, das schwarze Halstuch und der Lederknoten, der es hält, werden in einer eigenen Zeremonie gesondert verliehen. Ich trage Zöpfe und werde »im Dienst« fortan Bärbel genannt.
Dienst ist zweimal in der Woche, einmal Heimabend und einmal Sport. Ich gehe ganz gern hin, Heimabend und Sport sind immer noch interessanter als Spazierengehen mit dem Fräulein. Sport ist Kult. In der Schule heißt das Fach »Leibeserziehung«, denn das Wort Sport ist englisch und Fremdwörter sind tabu. Leibeserziehung steht im Zeugnis jetzt an erster Stelle, noch vor Deutsch und Mathematik. Ich bin nicht besonders gut in Leibeserziehung, aber das Leistungsabzeichen für Jungmädel schaffe ich. Sechzigmeterlauf in zwölf Sekunden ist das Minimum. Beim Heimabend wird vor allem gesungen. Wir singen die »Lieder der Bewegung«, Volkslieder und »fröhliche Lieder«, deren Texte wir in ein gelbes Heft niederschreiben. »Frelichelida« steht auf dem Heft von Eva Wohak, einer unserer »Kameradinnen«.
Evička ist eines von mehreren Mädchen mit tschechischer Muttersprache, die nun in unserer deutschen Schule und auch in unserer Hitlerjugendgruppe auftauchen. Ihre Eltern, oft in gemischten Ehen lebend, haben sich für das Deutschtum entschieden, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Die Politik der Nazis, wie der stellvertretende Reichsprotektor Reinhard Heydrich bei seinem Amtsantritt in einer erst später bekanntgewordenen Geheimrede verkündet hat, ist es ja, die »rassisch wertvollen Elemente« der Tschechen zu germanisieren. Die rassisch weniger Wertvollen sollen nach dem Endsieg in den Osten deportiert werden und die rassisch Wertvollen, die nicht germanisiert werden wollen, liquidiert. Aber das wissen wir
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