Zuhause ist ueberall
gute Freundinnen. Er sieht aus wie ein alter Indianer, in Jeans und einem uralten Hemd. Er ist zugleich ein Weiser und ein Kindskopf. Anita ist immer noch eine Garçonne im Look der Zwanzigerjahre, der später wieder modern wird, in Hosen und mit streichholzkurzen Haaren.
Es ist die Zeit der Hippies. Bärtige junge Männer und naturbelassene junge Frauen aus aller Herren Länder gehen im Häuschen ein und aus, dazwischen tauchen hin und wieder auch wohlbestallte Diplomaten und betuchte Weltenbummler auf und einfache Griechen aus der Nachbarschaft. Ich erinnere mich an einen Abend, an dem ich ins Gespräch vertieft mit Ery auf der Terrasse sitze. Die Teekanne fällt um, alles schwimmt. Stört dich das?, fragt Ery. Ich sage nein. Und Ery spricht ungerührt weiter, lässt den Fluss des Gesprächs durch eine Kleinigkeit wie diese nicht unterbrechen. Das ist typisch Ery: dieses völlige Eingehen auf die Bedürfnisse des jeweils andern, auch wenn es sich nur um eine halbwüchsige Nichte handelt. Diese Achtsamkeit und Rücksichtnahme, ungeachtet dessen, was sich gehört. Wer mit Ery spricht, hat das Gefühl, er oder sie sei in diesem Augenblick für diesen der wichtigste Mensch auf der Welt.
Ery ist ein Bohemien. Er macht sich überhaupt nichts aus Konventionen, und nichts liegt ihm ferner, als zu moralisieren. Aber unter all der Großzügigkeit und Menschenfreundlichkeit ist eine stahlharte Kompromisslosigkeit verborgen, die Ery mir mit dem lakonischen Hinweis auf eine Zeile aus Hamlet erklärt. »Rightly to be great is not to stir without great argument, but greatly to find quarrel in a straw when honour’s at the stake.«
Nach Anitas Tod übersiedelt Ery zu uns nach Wien und lebt in der Familie meines Bruders Jakob. Dessen Kinder schließen ihn augenblicklich ins Herz, und zwar eher als »einen von uns« denn als Großonkel und Respektsperson. Und als Ery schließlich stirbt, sitzen nicht weniger als drei weinende Frauen an seinem Bett. Sie waren alle drei in ihn verliebt.
Eine Familie, deren Mitglieder verschiedener nicht sein könnten. Ist es die Mischung der Gene, die zu dieser Vielfältigkeit beigetragen hat? Nicht nur Mitsu, die Japanerin, hat die Familie aufgemischt. Die Coudenhoves kommen ursprünglich aus Brabant, eine alte Familie, deren Name schon in den Kreuzzügen aufscheint. Sie gehen, als habsburgtreue Konservative und Napoleon-Gegner, während der Napoleonischen Kriege nach Österreich. Den zweiten Namen Kalergi haben sie von unserer Urgroßmutter Maria Kalergi übernommen, einer Deutschrussin mit familiären Wurzeln in Kreta. Es gibt polnische, französische, schwedische, deutsche Vorfahren. Etwas von ihnen allen lebt in Mitsus Kindern und Enkeln weiter. Gegen Nationalismen aller Art sind sie jedenfalls für alle Zeiten immun.
Unter dem Hakenkreuz
Am 15. März 1939 marschieren die Truppen Hitlerdeutschlands in die sogenannte Resttschechei ein, und aus der pseudo-unabhängigen Republik wird das Protektorat Böhmen und Mähren. In meinem Kinderleben merke ich zunächst keine große Veränderung. In unserer deutschen Volksschule müssen wir die erste Seite der Lesebücher zukleben, und statt »Wo ist mein Heim, mein Vaterland?« singen wir jetzt »Deutschland, Deutschland über alles«. Dazu, statt der slowakischen Hymne, als Zusatz das Horst-Wessel-Lied »Die Fahne hoch, die Reihen dicht geschlossen«. Bei diesem Lied muss man, wie wir sagen, »Heil Hitler machen«, also die Hand zum deutschen Gruß erheben. Das Horst-Wessel-Lied hat drei Strophen, da wird der Arm leicht müde. Aber wehe, man legt ihn dabei verstohlen auf die Schulter des oder der vor einem Stehenden. Dann erntet man wütende Blicke von Direktor Rautschka und nachher eine strenge Belehrung, was sich für ein deutsches Mädel schickt. Und meine zwei liebsten Schulfreunde aus der ersten Klasse, Stutzi Dubs und Wolfi Fürth, sind eines Tages nicht mehr da. Nach England gegangen, heißt es. Niemand fragt, warum.
Statt des Prager Tagblatts kommt nun die deutsche Protektoratszeitung Der neue Tag zu uns nach Hause, und unsere Adresse lautet plötzlich Budanhöhe statt Nad Buďánkami. In der Elektrischen rufen die von uns Kondukteure genannten Schaffner jetzt alle uns vertrauten Haltestationen zuerst deutsch und dann erst tschechisch aus. Brückel – Můstek, Wenzelsplatz – Václavské náměstí und, von uns kichernd erwartet, Museum – Muzeum. Das Wort wird im Deutschen auf der zweiten, im Tschechischen aber auf der ersten Silbe
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