Zuhause ist ueberall
anrührt und tröstet, ist die Begegnung mit monastischer Spiritualität, wie sie im Benediktinerorden gepflegt wird. Jeden Tag vor der Schule laufe ich hinüber ins nahe Stift St. Peter und höre die Laudes. Die Mönche halten dort ihr Chorgebet mit gregorianischem Choral, auf Latein, und die Poesie und Bildmächtigkeit der Psalmen (ich habe ein Buch mit der deutschen Übersetzung) verfehlen ihren Eindruck nie. Diese Texte werden seit tausend Jahren gesungen, hier und auf der ganzen Welt. Sie sind die Heimat der Heimatlosen. Wo sie erklingen, denke ich mir, bist du zu Hause. Der Christ braucht keine territoriale Heimat. »Meine Heimat sind deine Altäre«, habe ich irgendwo gelesen. Meine Freundin Gilli, von Haus aus evangelisch, konvertiert zum katholischen Glauben, zur Freude unserer Nonnen. Ihnen gefällt besonders, dass Gilli Angela heißt wie die Gründerin und Schutzpatronin ihres Ordens. Ich bin Gillis Taufpatin.
Im Internat bilden Gilli und ich gemeinsam mit Risa, deren Familie aus Ungarn nach Österreich geflohen ist, eine Clique. Wir haben alle drei das, was man später einen Migrationshintergrund nennen wird. Und wir sind wohl alle drei, ebenfalls mit einem später in Mode gekommenen Begriff, traumatisiert. Das verbindet. Und außerdem sind wir gute Freundinnen. Mit den eingesessenen Salzburger Bürgermädchen in unserer Schule kommen wir gut aus, aber wir stoßen auch auf Schritt und Tritt auf die Verschiedenheit unserer Erfahrungen. Einheimische und Flüchtlinge – zwei Welten.
Ich mache mir nicht viel aus Geld und Besitztümern, aber ich merke natürlich, dass ich im Vergleich zu meinen Mitschülerinnen ein armes Kind bin. Ich habe nur ein paar hoffnungslos altmodische geschenkte Sachen zum Anziehen. Mein Mantel ist aus einem alten Militärmantel umgenäht, der steife grünliche Stoff ist scheußlich. Als der »New Look« aufkommt, wadenlange, schwingende Röcke zur schmalen Taille, schneidert mir jemand einen solchen Rock aus einem billigen roten Kunststoff namens Everglaze. Ich bin selig. Dieser Rock ist mein einziges schönes Stück, und ich hüte ihn wie einen Schatz.
Im letzten Schuljahr verlässt Gilli unsere Schule und geht nach Tirol, und ich wechsle nach Gmunden, wo meine Mutter mit Michi inzwischen wohnt. Wir hausen zu dritt in einem Zimmer im Souterrain einer Villa. Unser Essen bereitet Mami auf einem Elektrokocher zu. Im Zimmer ist es meistens kalt. Michi und ich stehlen Kohlen, sooft wir können, und bringen diese stolz nach Hause. Mein Vater arbeitet in Graz, wo er in einem katholischen Bildungsheim wohnt und noch keine Wohnung für seine Familie hat. In Gmunden gibt es eine Schule der Kreuzschwestern, aber ich habe jetzt genug von Klosterschulen und absolviere die achte Klasse im Knabengymnasium. Wieder einmal bin ich das einzige Mädchen. Das ist wohl der Grund, warum man mir nachsieht, dass ich in Mathematik hoffnungslos schlecht bin. Unserem Klassenlehrer ist klar, dass an diesem Zustand nicht viel zu ändern ist, und drückt bei der Matura beide Augen zu. Und dann ist es geschafft, und ich weiß: Ich muss unbedingt raus aus der Provinz. Nur weg. Etwas Neues muss her.
Lords und Ladies
Ich sitze im Zug und fahre nach England. Meine erste Auslandsreise! Am andern Ende wartet ein Job als Au-pair-Mädchen bei einer englischen Familie. Ich bin achtzehn, ich bin erwachsen, ich bin endlich der Aufsicht der Eltern und der Internatsnonnen entronnen, und ich genieße es, allein dazusitzen, aus dem Fenster zu schauen und die Landschaft an mir vorbeiziehen zu lassen. Jetzt fängt das richtige Leben an, endlich. Ich bin glücklich. Aber nur bis zu dem Augenblick, als der Zug in Bludenz hält. Da passiert etwas Schreckliches. Ich steige kurz aus, um Wasser zu trinken. Und der Zug fährt ab, ohne mich, aber mit meinem Koffer. Viel ist nicht drin, aber es sind alle meine Habseligkeiten.
Ich nehme den nächsten Zug, aber mich quält der Gedanke, an meinem neuen Arbeitsplatz anzukommen und sofort meine Arbeitgeber um eine Zahnbürste und die nötigste Wäsche bitten zu müssen. Für mich selbst verantwortlich sein, von meiner Hände Arbeit leben, von niemandes Gunst abhängig – das war es, worauf ich mich am meisten gefreut hatte. Die Bettlerrolle habe ich mehr als satt. Und ausgerechnet in dieser finde ich mich jetzt wieder. Was werden meine neuen Arbeitgeber wohl von mir denken? Dass da eine kommt, die zu blöd ist, um ohne größere Kalamitäten allein von Österreich nach England zu
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