Zuhause ist ueberall
meine beste Freundin.
Angela, die wir alle Gilli nennen, hat viel hinter sich. Sie kommt aus Wien. Ihre Mutter ist bei ihrer Geburt gestorben, sie ist bei sehr alten Großeltern aufgewachsen und später zu ihrem Vater, einem Obernazi, gekommen, der wieder geheiratet hat. Gilli hasst ihre Stiefmutter, und sie hasst ihren Vater. Sie wünscht sich glühend, nach Salzburg ins Internat zu gehen. Bei der Aufnahmeprüfung in die Schule zu scheitern wäre eine Katastrophe gewesen. Zurück zum Vater in ein Notquartier auf dem Land – eine Horrorvorstellung. Wenn sie mich nicht genommen hätten, hätte ich mich umgebracht, erzählt sie mir später. Ich bin baff. Ja, aber warum hast du dann bei der Prüfung kein Wort gesagt? Die Fragen waren doch gar nicht so schwer. Gilli weiß es auch nicht. Ich konnte einfach nicht, sagt sie. Ich konnte kein Wort herausbringen. Nicht einmal meinen Namen hätte ich sagen können.
Gilli ist brillant, aber anarchisch. Nie hat sie ein ordentliches Heft. Sie schreibt im Unterricht ein bisschen mit, auf chaotische Zettel. In der Studierzeit im Internat lernt sie nie, sondern liest Nietzsche und Hegel. Mathematische Probleme, über denen wir anderen verzweifeln, löst sie im Handumdrehen, und ihre schriftlichen Arbeiten ragen weit über das Schülerniveau heraus. Ein verschlamptes Talent. Sie hätte eine konsequente geistige Führung gebraucht, aber an die ist im Salzburg der späten Vierzigerjahre nicht zu denken.
Dabei ist unsere Schule nicht schlecht. Auch hier ist die mittlere Lehrergeneration praktisch ausgefallen, und viele Pädagogen aus der Vorkriegszeit haben ihren Platz eingenommen. Unter ihnen sind etliche echte Originale, ein Typ, der Jugendlichen oft sehr viel mehr sagt als angepasste Durchschnittslehrer. Unsere Mathematiklehrerin etwa, dieselbe, die Gilli bei der Aufnahmeprüfung wider alle Vorschriften durchkommen ließ, ist eine skurrile Person. Sie ist abgrundtief hässlich, hat ein feuerrotes Gesicht und feuerrote Haare und trägt im Winter eine blaue Pudelmütze mit einer großen Bommel. Es heißt, dass sie zu Hause eine Ziege hat, die sie nach der Schule in Nonntal an einer Leine spazieren führt. Aber sie ist eine hervorragende Mathematikerin. Wir finden sie zwar lächerlich, aber wir schätzen sie. Der Deutschlehrer freilich ist ein hilfloser alter Mann, wir machen in seinem Unterricht, was wir wollen, und lernen so gut wie gar nichts.
Politik, überflüssig zu sagen, kommt nicht vor. Die Nazizeit ist erst kurz vorbei, aber diese Epoche wird als »die dunklen Jahre« kursorisch abgetan. Eine Art Irrtum der Geschichte. Irgendwie gilt diese Zeit nicht. Wir hören nichts über die Judenverfolgung, nichts über die KZ, nichts über die Unterdrückung Andersdenkender, über Gleichschaltung und Rassenwahn. Im Rückblick erscheint das nachvollziehbar. Wie soll man auch jungen Menschen, die die Nazizeit im Großen und Ganzen als nicht unangenehm erlebt haben, erklären, dass es sich dabei um ein Höllenregime gehandelt hat?
Der Krieg war schlecht, das ja. Väter und Verwandte waren eingerückt, viele sind gefallen. Getötet freilich von der Hand der Feinde, nicht von der Hand der Nazis.
Und das Leben an der Heimatfront? Wer keine Juden und keine Regimegegner kannte, hatte es nicht so schlecht. Viele haben, wissentlich oder unwissentlich, vom Vermögen der Vertriebenen profitiert und sind lästige Konkurrenten losgeworden. Der Blockwart war möglicherweise ganz nett. Und das soll nun alles ein einziger Horror gewesen sein? Das entspricht einfach nicht der Erfahrung, die die Jugendlichen in ihren Familien mitbekommen haben. Es hätte genügt, uns den KZ-Film »Nacht und Nebel« zu zeigen, der in Deutschland damals so etwas wie ein Pflichtprogramm der Entnazifizierung war. Damit wäre allen klar geworden, was sich in jenen Jahren abseits von HJ-Heimabenden und Völkerball-Wettbewerben abgespielt hat. Aber das geschieht nicht. Wir wissen nicht einmal, dass es diesen Film gibt. Und so hören wir vom ganzen Thema gar nichts.
Mehr noch als in der Hauptschule wird uns jetzt im Gymnasium eingeprägt, dass Österreich unsere Heimat ist und wir mit Deutschland, zu dem wir noch vor kurzem gehört haben, absolut gar nichts zu tun haben. Auf unseren Stundenplänen und Zeugnissen steht nicht Deutsch, sondern Unterrichtssprache. Ein Begriff, den der konservative Unterrichtsminister Felix Hurdes im verzweifelten Bemühen, alles Deutsche wegzuschieben, erfunden und durchgesetzt hat.
Im Jahre
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