Zuhause ist ueberall
1946 wird mit großem Aplomb einer Urkunde gedacht, die vor 850 Jahren geschrieben wurde und auf der erstmals der Name Ostarrîchi vorkommt. Nicht einmal ein runder Geburtstag. Die Urkunde ist historisch völlig unbedeutend, sie bekräftigt die Schenkung eines Stücks Land im heutigen Niederösterreich an das Bistum Freising. Aber die Ortsbezeichnung Ostarrîchi wird erwähnt, für die Kulturpolitiker des Landes die Grundlage dafür, dass Österreich, und zwar das kleine Österreich, seit dem Mittelalter besteht.
Hier wird eine Tradition begründet. Nicht der Vielvölkerstaat Österreich mit seiner europäischen Dimension und seiner kulturellen Vielfalt wird zur Identitätsstiftung herangezogen und nicht die Zugehörigkeit zur reichen deutschsprachigen Kultur. Ostarrîchi, das kleine Österreich, ist unsere Heimat. Wir feiern das Jubiläum mit einer großen Schulveranstaltung, der Direktor hält eine Rede, die Politiker detto, wir schreiben einen Aufsatz darüber, die Zeitungen widmen dem Anlass würdevolle Leitartikel. 850 Jahre Aktenlauf. 850 Jahre Provinz. Ich weiß selbst nicht recht warum, aber mir geht das Ganze mächtig auf die Nerven.
Wir sind klein, unser Herz ist rein. Das ist ungefähr das Leitmotiv unserer staatsbürgerlichen Erziehung in jenen Jahren. Klein, kleiner, am kleinsten. Mehr noch als das kleine Österreich steht das kleine Bundesland Salzburg im Mittelpunkt. Wir singen die Landeshymne, in der von schneebedeckten Bergen die Rede ist und von friedlichen Dörfern am sonnigen See. Eine Idylle, weit entfernt von den Wirrnissen der Zeitläufte und den Stürmen der Geschichte. Nichts für mich, die ich von meinem Vater die Sehnsucht nach der Weite des alten Vielvölkerstaats und von meinen Nazilehrern den Abglanz der »Reichsidee« mitbekommen habe. Und auch von den Stürmen der Geschichte habe ich bereits einiges am eigenen Leib erlebt. Ich komme mir vor, als sei ich plötzlich ins Zwergenland versetzt. Ein ziemlich spießiges Zwergenland noch dazu.
Gilli und ich suchen hungrig und leidenschaftlich nach Orientierung, die uns die Schule nicht gibt. Wir sind beide Leseratten. Die Salzburger Stadtbibliothek, im Schloss Mirabell untergebracht, ist unser Jagdrevier. Allzu fündig werden wir nicht. Peter Rosegger, Ina Seidel, Paula Grogger. Die jüdischen und »entarteten« Autoren fehlen. Ob sie nie da waren oder erst in der Nazizeit entfernt wurden, ist unklar. Wir wissen ja gar nicht, dass sie existieren. Aber immerhin, wir entdecken Dostojewski und sind damit eine Weile beschäftigt.
Unser Klosterinternat liegt in der Gstättengasse, am Fuße des Mönchsbergs. Es ist ein düsterer Bau, aus dem Fenster blicken wir über die schmale Gasse hinweg auf die Felswand des Berges. Ich bin den Ursulinen dankbar, dass sie mir mit ihrem Freiplatz den Besuch einer höheren Schule ermöglicht haben. Ohne sie hätte ich es mit der Hauptschule genug sein lassen müssen. Für Taschengeld von zu Hause reicht es nicht, ich gebe vom Anfang bis zum Ende meiner Schulzeit Nachhilfestunden an jüngere Schülerinnen. Mir geht es ganz gut im Internat. Die Schwestern sind nett, sie tun ihr Bestes, aber viel haben sie uns in diesen kargen Nachkriegsjahren nicht zu bieten.
Um halb sieben in der Früh öffnet Mater Imelda die Tür zu unserem Sechsbettzimmer und ruft: Guten Morgen, Kinder, aufstehen, gelobt sei Jesus Christus. In Ewigkeit, amen, antworten wir schlaftrunken. Waschen im eiskalten Waschraum. Frühstück, Schule, Mittagessen nach immergleichem Wochenspeiseplan. Am Montag gibt es Grenadiermarsch, am Dienstag eine Art Bohneneintopf, den wir »spartanische Blutsuppe« nennen. Dass die Spartaner Blutsuppe gegessen haben, haben wir im Geschichtsunterricht gelernt. Nachmittags Studierzeit. Einmal in der Woche dürfen wir in die Dompfarrgruppe der Katholischen Jugend. Und das ist es. Sonntags Messe in der schönen barocken Ursulinenkirche. In der Fastenzeit Exerzitien nach klassischer Jesuitenmanier.
All das ist nicht besonders inspirierend, aber die Religion ist trotzdem das Beste und das Einzige, das uns in jener Zeit wirklich zu interessieren vermag. Für mich ist es nicht der konventionell-katholische Betrieb in der Klosterschule, und es sind auch nicht die Heimabende in unserer Jugendgruppe. Dort herrschen Restbestände des triumphalistisch-militanten Geistes der Jugendbewegung der Ständestaat-Zeit, mit Liedern wie »Vivat hoch die Christusgarde« oder »Lasst die Banner wehen über unseren Reihen«.
Was mich
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