Zuhause ist ueberall
die Schulen in Österreich gerade erst dabei, sich an die neue politische Situation anzupassen. Noch vor wenigen Monaten galten hier die Gesetze und der Geist des Dritten Reiches. Die Kinder waren bei der Hitlerjugend, die HJ-Führer hatten oft mehr zu sagen als die Lehrer, und der Turnlehrer war die wichtigste Person im Lehrkörper. Alle Direktoren waren Parteimitglieder. Nun ist plötzlich alles anders. Jetzt haben die Besatzungsmächte das Sagen, Demokratie wird verlangt. Die wichtigsten Nazilehrer sind ausgeschieden und durch reaktivierte Lehrer aus der Vorkriegszeit, also der Zeit des Ständestaates, ersetzt. Und die übrigen müssen schauen, dass sie sich keine Blößen geben und irgendwie damit zurechtkommen, dass sie nun ganz anders reden sollen als noch im kaum vergangenen letzten Schuljahr.
Im Geschichts- und Deutschunterricht ist jetzt Heimat angesagt. Heimat passt zur alten und zur neuen Zeit, da kann man nichts falsch machen. Wir schreiben einen Deutschaufsatz zu diesem Thema. Als die Hefte zurückgegeben werden, bekomme ich meines nicht, sondern werde stattdessen zum Direktor bestellt. Dort erwarten mich neben diesem noch zwei ernst blickende Lehrerinnen. Ich werde einem hochnotpeinlichen Verhör unterzogen. Ich weiß nicht recht, was man von mir will, aber offenbar war mein Aufsatz ideologisch nicht korrekt. War er zu deutsch? Zu wenig österreichisch? Zu wenig heimattreu? Bin ich vielleicht ein Nazikind? Die Lehrer sagen nicht, was genau nicht in Ordnung war. Aber ich kriege mit, dass ich nun ein richtiges österreichisches und salzburgisches Alpenmädel werden soll, das stolz auf die Heimat ist und die Berge liebt. Und dann werde ich in Gnaden entlassen.
Eine schwierige Zeit für eine Dreizehnjährige. Was ist meine Zuflucht und mein Trost? Lesen natürlich. Aber was? In Tamsweg gibt es eine Pfarrbibliothek und einen netten Kaplan, der mich darin stöbern lässt. Ich lese die Romane von Enrica von Handel-Mazzetti, blutrünstige, aber farbenprächtige Geschichten aus der Zeit der Gegenreformation. Am Grangler finde ich einen Stoß Exemplare der deutschen Zeitschrift Die Woche von 1906. Wie kommt so was ausgerechnet in den Lungau? Deutschland als Kaiserreich. Ich sehe Bilder von Kaiser Wilhelm bei der »Kieler Woche«, Segelschiffe inspizierend. Ich lese eine Kolumne »Briefe eines modernen Mädchens« namens Lulu, mit Berliner Society-Tratsch. Berichte von den Kämpfen der deutschen Schutztruppe in Deutsch-Südwestafrika und Inserate für Sunlicht-Seife. »Auch drunten im Hereroland ist Sunlicht-Seife wohlbekannt.« Alles sehr interessant. Und im Palais Khuenburg sind regalweise gebundene Ausgaben der Gartenlaube aufbewahrt.
Mein Vater hat inzwischen einen Job. Es hat sich herausgestellt, dass der neu eingesetzte Bezirkshauptmann in Tamsweg ein Theresianist ist, Jahrgangskollege von unserem Onkel Ery. Rudi Stummer von Traunfels war als konservativer Nazigegner im KZ Dachau. Menschen, die keine Nazis waren, werden händeringend gesucht, die Verwaltung braucht neue Leute. Die Beamten von früher sind entweder gefallen oder in Gefangenschaft, oder sie waren Nazis. Rudi Stummer ist glücklich, Papi anzustellen, der noch dazu Englisch spricht und mit den amerikanischen Besatzern reden kann. Von Verwaltung haben die Neuen allesamt wenig Ahnung, aber irgendwie geht es. Wir bekommen eine kleine Wohnung in Tamsweg, freundliche Nachbarn versorgen uns mit dem allernötigsten Hausrat.
Ich habe nun die Hauptschule abgeschlossen und soll ins Gymnasium. Die Ursulinen in Salzburg geben mir einen Freiplatz in ihrem Internat, und ich soll, obwohl ich im letzten Jahr viel versäumt habe, in die fünfte Klasse Mädchen-Realgymnasium aufsteigen. Die Schule ist öffentlich, und eine ganze Reihe Mädchen tritt zur Aufnahmeprüfung an. Wir sitzen alle in einer leeren Klasse und warten, dass wir aufgerufen werden. Eine der Kandidatinnen ist eine hochaufgeschossene Vierzehnjährige namens Angela. Ich sehe zu, wie sie geprüft wird, ich bin als Nächste dran. Und ich sehe mit Staunen und wachsendem Entsetzen, wie sie auf keine einzige Frage eine Antwort gibt. Sie steht einfach da und schweigt. Glatter Durchfaller, denke ich. Aber die prüfende Lehrerin ist eine gute Psychologin. Sie spürt, dass hier weder Dummheit noch Ignoranz vorliegen, sondern eine tiefere Störung. Sie gibt Angela eine Chance und nimmt sie probeweise auf. Wie sich bald zeigt, ist diese die mit Abstand begabteste Schülerin in unserer Klasse. Sie wird
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