Zuhause ist ueberall
ich zum ersten Mal ins Haus komme, empfängt sie mich sofort mit der Frage: Magst du Tennyson lieber oder Shelley? Ich habe keinen von beiden gelesen, aber antworte wie aus der Pistole geschossen: Shelley natürlich. Wie sich zeigt, war das die richtige Antwort. Ich habe die Prüfung bestanden und werde fortan von Margaret, der heimlichen Anführerin der Kinderschar, gnädig akzeptiert.
Evelyn Waugh ist, so finde ich noch heute, der witzigste englische Schriftsteller seiner Generation. In den Dreißigerjahren war er ein Shooting Star, seine Romane aus dieser Zeit zeichnen ein ebenso treffendes wie umwerfend komisches Bild der vergnügungssüchtigen, frivolen, anarchischen und desorientierten jungen Leute der Epoche, der Bright Young People. Später machte er, gemeinsam mit Winston Churchills Sohn Randolph auf dem Balkan eingesetzt, Furore mit einer Romantrilogie über den Zweiten Weltkrieg. Als ich ihn kennenlerne – aus der Perspektive des kleinen Au-pair-Mädchens –, ist er ein rundlicher kleiner Mann, der, bewusst und ein wenig demonstrativ, eine Aura der Altmodischkeit kultiviert. Moderne Technik kann er nicht leiden, ebenso wenig Journalisten, Werbung, Amerikaner und Kinder, die alles dürfen. Sein Witz ist brillant, aber gelegentlich auch schneidend. Evelyn, fragt ihn einmal während eines Besuchs in Pixton seine Schwägerin Bridget, wie kannst du nur so ekelhaft sein, wo du doch so katholisch bist? Und Mister Waugh antwortet: Meine liebe Bridget, was glaubst du, wie ekelhaft ich erst wäre, wenn ich nicht so katholisch wäre.
Natürlich lese ich sämtliche Bücher von Evelyn Waugh. Die Bibliothek in Pixton ist, im Gegensatz zu Breznitz, reichhaltig und ausgezeichnet, und auch in den Häusern von Lady Herberts Töchtern gibt es viel und gut zu lesen. Ich erwerbe so nebenbei eine gute Grundkenntnis der englischen Literatur. Bei den Drus bekomme ich einmal die Aufgabe, die Bücher abzustauben und einzuordnen, aber ich komme damit nicht recht weiter, weil ich immer wieder bei irgendeinem Buch hängenbleibe. Gérard Dru lacht nur und sagt: Recht hast du.
Und auch von den Kindern lerne ich so manches. Wir singen gemeinsam die schönen englischen Kinderlieder und Nursery Rhymes und lesen die nicht minder schönen englischen Kinderbücher. »Doctor Dolittle«, »Alice in Wonderland« und »Winnie the Pooh« kenne ich schon von zu Hause, aber jetzt lerne ich noch viele andere kennen. Und natürlich sind die hiesigen Kinder, so wie einst auch ich, in historischen Fragen leidenschaftliche Parteigänger. Waren wir beim Siebenjährigen Krieg Anhänger der Österreicher gegen die Preußen, so sind Margaret, Robin und die anderen aus katholischen Gründen für die schottischen Stuarts gegen deren englische Feinde. Margarets Liebling ist Bonnie Prince Charlie, »the lad born to be king«, der Thronprätendent, der bei Nacht und Nebel aus Frankreich in seine Heimat zurückkehrt und in seiner Mission scheitert.
Lady Herberts einziger Sohn heißt Auberon. Bron, wie er genannt wird, diente im Krieg bei einer polnischen Einheit. Die britischen Regimenter, bei denen er sich beworben hatte, nahmen ihn wegen seiner angeschlagenen Gesundheit nicht, aber die Polen, berühmt für ihre Todesverachtung, waren über jeden froh, der mit ihnen kämpfen wollte. Die polnischen Soldaten bei den Westalliierten ernteten Ruhm bei der Luftschlacht um England und beim Feldzug in Italien, besonders bei der Schlacht um Monte Cassino. Aber als der Krieg zu Ende war, konnten und wollten sie nicht in ihre Heimat zurückkehren, die nun zum Teil von der Sowjetunion annektiert und zur Gänze von den Kommunisten dominiert war. Eine der vielen halbvergessenen kleineren Tragödien in der Folge der großen Tragödie des Krieges.
Auberon tat alles, um seinen Kameraden in und um Pixton Arbeit zu verschaffen. In den westenglischen Dörfern wimmelte es plötzlich von polnischen Veteranen, oft feschen Burschen, die hinter den englischen Mädchen her waren. Während meiner Au-pair-Zeit gibt es immer wieder Eifersuchtsdramen. Und oft höre ich Lady Herbert seufzen: Schon wieder! Brons Polen!
Auberon hat eine kleine Wohnung in London, die er nur selten benutzt, und vor meiner Abreise zurück nach Österreich darf ich ein paar Tage dort wohnen und mir die Hauptstadt anschauen. Ein junger Mann aus dem Umfeld der Familie macht sich erbötig, mir London zu zeigen. Er ist wohlerzogen und schüchtern und tut sein Bestes. Er führt mich zum Parlament und zur
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