Zuhause ist ueberall
Westminster Abbey, in die Nationalgalerie und ins Britische Museum. Beim Abschied im Taxi macht er höfliche Konversation, aber plötzlich und ohne Warnung umarmt er mich und gibt mir einen Kuss. Ich erschrecke, er erschrickt auch, wird rot und sagt: »Oh, awfully sorry.« Ein Anbandelversuch? Nein, ein peinlicher Fauxpas. Mein Begleiter ist verlegen. Ich bin verlegen. Wir schweigen für den Rest der Fahrt. Ja, so sei das in England, erklärt mir später eine erfahrene Freundin.
Nach Wien, nach Wien!
Nach Moskau, nach Moskau!, rufen die drei Schwestern in Anton Tschechows gleichnamigem Stück. Nach Wien, nach Wien!, rufe ich, als ich von England nach Österreich zurückkomme. Ich, überzeugte Stadtbewohnerin von Kindheit an, will in die Großstadt. Stadtluft macht frei. Nur keine Provinz!
Meine Eltern haben mittlerweile eine Wohnung in Graz. Ich möchte studieren, und die Eltern hätten gern, dass ich das in Graz tue. Bei ihnen wohnen könnte ich zwar nicht, dazu ist die elterliche Wohnung zu klein, aber essen könnte ich dort, und manches wäre leichter. Aber mich zieht es in die Hauptstadt.
Im Wintersemester 1951 inskribiere ich am Dolmetschinstitut der Wiener Universität. Das ist der Weg des geringsten Widerstandes. Englisch kann ich nach meinem Englandjahr sowieso, und der Beruf der Konferenzdolmetscherin bei internationalen Organisationen gefällt meinem Vater und mir auch. Meine Freundin Gilli hat dasselbe Studium gewählt. Freilich, weit kommen wir beide damit nicht. Die Sprachübungen sind zu leicht für uns und das Simultandolmetschen zu schwer. Fast niemand von unseren Kollegen schafft es, mit Ausnahme von Hansi Eberstark, einem voluminösen jungen Mann mit einem phänomenalen Gedächtnis. Er kann nicht nur anscheinend mühelos lange Vorträge blitzschnell von einer Sprache in die andere dolmetschen, er ist auch ein genialer Kopfrechner. Hansi, wie viel ist 365 mal 742?, kann man ihn fragen und erhält in Minutenschnelle die korrekte Antwort. Seufzend resignieren wir. Damit können wir nicht konkurrieren.
Aber das ist für mich auch nicht das Wichtigste am Studieren. Ich brauche eine Pause zwischen Schule und Berufsleben. Zeit, um erwachsen zu werden und einen eigenen Weg zu finden. Ich bin nicht die Einzige in diesen Jahren, die an der Universität mehr bummelt als arbeitet, mehr probiert als fertigbringt. Der Leistungsdruck späterer Studentengenerationen bleibt uns noch erspart. Verloren ist die Zeit trotzdem nicht. Für uns ist wichtig, in der Großstadt zu sein, neue Ideen zu hören, mit Gleichgesinnten zu diskutieren. Das geschieht in der Mensa, einem ungemütlichen, viel zu kleinen Raum im Hauptgebäude der Universität am Ring. Jeden Tag bin ich dort, meine Clique hat dort einen Tisch. Es wird endlos gequatscht und geraucht. Ich bestelle einen kleinen Braunen. Der muss für Stunden reichen.
Natürlich muss ich arbeiten, um mein Studium und mein Leben zu finanzieren. Ich habe einen Halbtagsjob bei der Caritas gefunden. Dafür bekomme ich fünfhundert Schilling im Monat. Das Geld ist genau eingeteilt: Die Miete für ein Untermietzimmer muss drin sein, eine warme Mahlzeit pro Tag und der kleine Braune in der Mensa. Die warme Mahlzeit ist immer die gleiche: eine Gulaschsuppe und eine Semmel in der sogenannten WÖK, der Volksküchenkette, die die Stadt Wien damals unterhält. Eine sehr gute WÖK-Filiale gibt es in der Herrengasse, nicht weit von der Universität.
Schwieriger ist die Frage des Wohnens. Am Anfang wohne ich in einem katholischen Studentinnenheim, aber dort werde ich nach einigen Monaten an die Luft gesetzt. Ich studiere nicht ernsthaft genug, findet die Direktorin. Sie hat recht. Die anderen Studentinnen, auch meine Zimmergenossin, verbringen alle Abende zu Hause über ihren Büchern. Ich fühle mich an mein Salzburger Klosterinternat erinnert. Nicht das schon wieder! Ich möchte nicht nur immerfort lernen, ich möchte auch leben, ausgehen, Freunde und Freundinnen sehen. Ich habe einen Verehrer, der mich manchmal spätabends nach Hause bringt und sich an der Tür mit einem Kuss verabschiedet. Auch das gefällt der gestrengen Heimleiterin nicht.
Jetzt heißt es also eine neue Bleibe suchen. Es beginnt ein langer Marsch durch die Wiener Untermietzimmer. In jenen Jahren sind Wohngemeinschaften für Studenten noch unbekannt, es gibt auch keine Garçonnieren und Singlewohnungen. Wohnraum aller Art ist knapp. Wer keine Familie hat – und manchmal auch, wer doch eine hat, aber wenig Geld
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