Zuhause ist ueberall
Soziologen müssen schließlich wissen, was es ist, das unsere Welt und unsere Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Oder eben nicht zusammenhält.
Mein Soziologieprofessor ist August Maria Knoll. Er ist auf seine Weise kein uninteressanter Mann. Einst war er Privatsekretär des Bundeskanzlers Ignaz Seipel, er war einer der Vordenker des Ständestaates und Nazigegner. Von diesem Hintergrund wissen wir Studenten natürlich nichts. Wir kennen nur das Gerücht, dass die Taschen seines guten Anzugs angeblich mit Wachstuch ausgeschlagen sind, weil er bei offiziellen Empfängen die Sandwichs einsteckt und zu seiner Familie nach Hause trägt. Bei Knoll schreiben wir eine Seminararbeit über den spanischen Gelehrten und Politiker Donoso Cortés, den von unserem Professor geschätzten katholischen Theoretiker der Diktatur.
Im Dolmetschinstitut haben wir eine konkrete Fertigkeit gelernt, aber hier, im Bereich der Geisteswissenschaften, sind wir mit der geistigen Substanz der Wiener Universität der Fünfzigerjahre konfrontiert. Im Wesentlichen handelt es sich um eine Fortsetzung der universitären Verhältnisse im Ständestaat. Die Größen der Zeit sind Professor Hubert Rohracher in der Psychologie, dessen Vorlesung für die ganze Fakultät Pflicht ist und in der der Name Sigmund Freud nicht vorkommt, der »Integralist« Leo Gabriel in der Philosophie, der Benediktinerpater Hugo Hantsch in der Geschichte. Alle haben ihre Meriten – aber die Gegenposition, sowohl die liberale wie die linke, fehlt. Was uns ahnungslosen Studenten dargeboten wird, ist so etwas wie ein zerbrochenes Bild, von dem nur eine Hälfte übrig ist. Dafür sorgt schon der gescheite, aber ultrakonservative Unterrichtsminister Heinrich Drimmel.
Wien ist damals grau und langweilig, befinden die Menschen, die aus dem Ausland zu Besuch kommen. Ostblock. Schäbig und gestrig. Ich kann das nicht finden. Denn unter der grauen Oberfläche brodelt es, und eine neue, durchaus nicht unbegabte Generation sucht ihren Weg. Viele, die später berühmt werden, machen ihre ersten Schritte, ziemlich unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit. An der Kunstakademie werden neue Kunstrichtungen ausprobiert, Abstraktion, Surrealismus, Realismus. Arnulf Rainer und Josef Mikl, Ernst Fuchs und Wolfgang Hutter malen ihre ersten Bilder, Alfred Hrdlicka verfertigt seine ersten Plastiken. Herbert Eisenreich, Milo Dor, Reinhard Federmann veröffentlichen ihre ersten Bücher. Helmut Qualtinger ist bereits ein Geheimtipp. Im »Strohkoffer«, der kleinen Kellerbar, in die mich manchmal jemand mitnimmt, spielt Uzzi Förster den neuesten Jazz. Niemand hat Geld. In der Kolingasse etabliert sich das Österreichische College und pflegt eine Sorte Wissenschaft, die die Universität nicht bietet. Im Sommer gibt es dazu im Tiroler Dorf Alpbach einen internationalen Kongress.
Mit Theodor W. Adorno beim Forum Alpbach, 1957
Dort arbeite ich einige Zeit als Hilfskraft, und in dieser Funktion lerne ich Ende der Fünfzigerjahre Theodor W. Adorno kennen, der in Alpbach ein Seminar leitet. Der berühmte Philosoph hat eine Schwäche für Österreich und auch für den Adel. Er entdeckt meinen Freund Andreas Razumovsky, damals Musikkritiker eines Wiener Boulevardblattes, und vermittelt ihn an die Frankfurter Allgemeine Zeitung , wo Andy bald zum Balkankorrespondenten aufsteigt. Und Adorno entdeckt auch mich. Ich schreibe zu dieser Zeit schon gelegentlich Artikel, und Adorno empfiehlt mich seinem Freund Karl Korn, einem der Herausgeber der FAZ . Ich fahre auch tatsächlich nach Frankfurt, und Korn bietet mir eine Stellung in seiner Zeitung an.
Adorno, der nicht nur Mitglieder des Adels mag, sondern auch junge Frauen, die ihn bewundern, zeigt mir sein Institut, Brutstätte der berühmten Frankfurter Schule. Seine beiden Assistenten sind Jürgen Habermas, später der führende Philosoph Deutschlands, und Ludwig von Friedeburg, der später hessischer Kulturminister wird. Alle schmunzeln ein bisschen, als Adorno mich herumführt. Mir wird es plötzlich unbehaglich. Die denken wohl: Wen hat der Alte da wieder aufgegabelt, schießt es mir durch den Kopf. In Wirklichkeit war es ihnen vermutlich herzlich egal. Aber mich verlässt der Mut. Als Protektionskind des berühmten Professors irgendwo anfangen? Ein bisschen peinlich. Ich bedanke mich höflich bei Adorno und Korn und fahre unverrichteter Dinge wieder nach Wien zurück. Habe ich eine große Chance aus Zimperlichkeit aufgegeben? Vielleicht. Vielleicht
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