Zuhause ist ueberall
haben ein eigenes Zimmer. Sie sind Individualisten und sollen Ruhe haben zum Dichten. Auch ich habe ein winziges Zimmerchen mit einem schönen Schreibtisch aus den Zwanzigerjahren und einem sogenannten Amerikaner, einem Bücherschrank mit aufklappbaren Glasfronten. Heute zahlt man für so etwas beim Antiquar viel Geld.
Wien war und ist bis zu einem gewissen Grade noch immer eine Stadt der geschlossenen Milieus. In meiner neuen Stellung lerne ich nun das sozialdemokratische Milieu kennen, das für mich und meine Freunde bisher Terra incognita war. Die prominenten Sozialdemokraten kennen einander meistens von Jugend auf, waren gemeinsam bei den Roten Falken oder der Sozialistischen Jugend. Viele sind auch miteinander verwandt. Man bleibt am liebsten unter sich. Und dort, im eigenen Milieu, wird auch diskutiert. Mit den anderen eher nicht. Wer von außen kommt, wird zunächst ein bisschen misstrauisch angeschaut.
Österreich wird bis 1966 von einer großen Koalition aus ÖVP und SPÖ regiert. Kein Wunder, dass das politische Leben langweilig ist. Viel Diskussion gibt es nicht. Entsprechend gleichgültig ist denn auch die Öffentlichkeit, inklusive mir und meinem Freundeskreis. Sozialdemokraten? Das sind doch die, die für die Krankenkassa und das Arbeitsamt zuständig sind. Brave Leute, aber total uninteressant. Im geistigen Leben der Stadt sind sie mir noch nie aufgefallen. Auf der Universität ist der Verband Sozialistischer Studenten eine kleine Minderheit. Dominierend ist dort die Gruppe der ÖVP-nahen Hochschüler, und an zweiter Stelle steht, stark und lautstark, der Ring Freiheitlicher Studenten.
Die heutigen Sozialdemokraten interessieren uns nicht besonders, wohl aber die Sozialdemokraten in der Ersten Republik. Wir wissen vom Roten Wien, von den Gemeindebauten, dem Bürgerkrieg von 1934. Deshalb lieben wir, als historisches Relikt, auch den 1. Mai. Seit ich in Wien bin, lasse ich ihn mir nie entgehen. Rote Fähnchen mit den drei Pfeilen an allen Fenstern der Gemeindebauten, dazwischen hie und da ein trotziges rotes Fähnchen ohne Pfeile. Da weiß man: Hier wohnen Kommunisten.
Jahr um Jahr versammeln sich alle, die sich zur Linken zählen, pünktlich auf der Ringstraße und besehen sich den Maiaufmarsch, der in jenen Jahren noch groß und imposant ist. Er ist übrigens auch heute noch eine Sehenswürdigkeit, eine Wiener Spezialität, die in Europa nicht ihresgleichen hat. In den Nachkriegsjahren war er überwältigend. Die Abordnungen der einzelnen Bezirke, viele mit sorgfältig bestickten Traditionsfahnen. Die Mitglieder des ASKÖ, des Arbeitersportklubs, auf ihren Fahrrädern, die Speichen mit Girlanden aus rotem Krepppapier umwunden. Der Block der feschen Krankenschwestern aus den Spitälern der Gemeinde Wien in ihrer Tracht und die Abordnung der noch fescheren Kindergärtnerinnen. Und im letzten Block trägt der Schlussmann ein Plakat mit der Aufschrift »Hier marschieren Demokraten, hinter uns die USIATEN«. Denn hinter den Sozialdemokraten marschieren am 1. Mai traditionsgemäß die Kommunisten; die USIA-Betriebe waren in der Zeit der Besatzung die verstaatlichten Betriebe unter sowjetischer Verwaltung, entsprechend stark war dort die Kommunistische Partei vertreten. Auch ihren Vorbeimarsch schauen wir uns an. Eines ihrer Transparente gefällt mir besonders gut. »Wenn Hietzing auch viel Villen hat, so braucht es doch ein Tröpferlbad.« Während die SPÖ ihre Kundgebung vor dem Rathaus abhält, findet diejenige der Kommunisten vor dem Parlament statt. In den Sechzigerjahren haben diese die Hoffnung noch nicht aufgegeben, eines Tages dort wieder vertreten zu sein. »Kommunisten wieder ins Parlament« lautet deshalb ihre Losung. In späteren Jahren kommt zu den Marschierern auch noch das kleine Häuflein der Maoisten dazu, die ihren Stand vor dem Maria-Theresien-Denkmal errichtet haben. Nach dem Aufmarsch trifft sich alles, von halblinks bis ganz links, auf der Terrasse des Café Landtmann.
Freilich, Maiaufmarsch oder nicht, die Sozialdemokraten der Vor-Kreisky-Zeit sind eher trübe Gesellen. Der Verband Sozialistischer Akademiker gibt eine Zeitschrift namens Die Zukunft heraus. Außer den Funktionären liest sie niemand. Aber im Jahre 1962 erscheint in dieser Zeitschrift ein Artikel des jungen sozialdemokratischen Funktionärs Heinz Fischer, des späteren Bundespräsidenten, der aufhorchen lässt. Er stützt sich auf die Mitschriften, die ein Student namens Ferdinand Lacina in der Vorlesung des
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