Zuhause ist ueberall
Professors an der Hochschule für Welthandel, Taras Borodajkiewicz, gemacht hat. Diese strotzt vor antisemitischen Auslassungen. Der Professor ist ein Nazi, daraus macht er gar kein Hehl. Fischer nennt seine Quelle nicht, denn Lacina ist mit seinem Studium noch nicht fertig und Fischer will ihm nicht schaden. Es kommt zu einem kleineren Skandal, aber Borodajkiewicz passiert nichts. Erst drei Jahre später folgt die Fortsetzung. Lacina, später Finanzminister, hat sein Studium jetzt abgeschlossen und sagt vor Gericht aus. Und nun wird aus der Geschichte die »Affäre Borodajkiewicz«, die, endlich, endlich, die Auseinandersetzung des Landes mit seiner Nazivergangenheit einläutet.
Die Sozialistischen Studenten gehen auf die Straße und verlangen die Abberufung des Naziprofessors, unterstützt von vielen bisher Unpolitischen, die über dessen »wissenschaftliche« Bemerkungen entsetzt und empört sind. Ich nehme auch teil und kriege mit, dass plötzlich Gegendemonstranten auftauchen. Sie kommen vom RFS, dem Ring Freiheitlicher Studenten, der Studentenorganisation der FPÖ. Es gibt Krach, Hiebe, Tumult. Die Polizei greift ein. Und am Schluss liegt ein alter Mann schwerverletzt auf dem Pflaster. Er heißt Ernst Kirchweger, war einst Matrose im Ersten Weltkrieg, Sozialdemokrat, Widerstandskämpfer, KZ-Häftling und ist jetzt Mitglied der Kommunistischen Partei. Einige Tage später erliegt er seinen Verletzungen. Er hat nicht einmal an der Demonstration teilgenommen, sondern stand nur am Straßenrand.
Der Täter wird ausgeforscht. Es ist ein alter Bekannter, Günther Kümel. Er war seinerzeit bei dem Neonazi-Bombenattentat auf das Parlament dabei. Das Begräbnis von Ernst Kirchweger wird eine Riesensache. 25 000 Menschen folgen dem Sarg, unter ihnen die Spitzen der Regierung plus Bundespräsident. Sozialdemokraten und ÖVPler gehen Seite an Seite mit den Kommunisten, die ihrem Genossen die letzte Ehre erweisen. Und viele, viele junge Leute gehen mit. Es ist die größte antifaschistische Kundgebung der Zweiten Republik, schreiben die Zeitungen.
In Deutschland hat das entscheidende Ereignis der »Vergangenheitsbewältigung« schon zwei Jahre früher, 1963, begonnen: der Auschwitzprozess in Frankfurt, der insgesamt über zwei Jahre dauert. Als ich in dieser Zeit einmal in Frankfurt bin, setze ich mich einen Tag lang in den Verhandlungssaal des Gallus-Hauses, wo der Prozess stattfindet, höre zu und berichte später darüber. Es ist ein Routine-Verhandlungstag in dem Riesenverfahren, Zeugen werden einvernommen. Ich brauche als Zuhörerin eine Weile, bis ich mich einigermaßen orientiert habe. Der Saal hier ist modern, er hat nicht die Aura des Großen Schwurgerichtssaals im Wiener Landesgericht, wo die Angeklagten separat ihre Plätze haben und leicht auszumachen sind. Hier sitzen alle durcheinander, man könnte auf den ersten Blick meinen, in einem Seminar oder auf einem Kongress zu sein. Und die Angeklagten, Mitglieder der SS-Wachmannschaft, denen zahlreiche Morde vorgeworfen werden, sehen auch nicht anders aus als die übrigen Leute im Saal.
In der Pause stehen alle zusammen in einem Vorraum, trinken Kaffee oder rauchen eine Zigarette, Richter, Angeklagte, Anwälte, Journalisten. Plötzlich merke ich, dass ich nur wenige Meter entfernt von dem Angeklagten Wilhelm Boger stehe. Dieser Mann wurde »die Bestie von Auschwitz« genannt. Er hat die sogenannte Boger-Schaukel erfunden, eine Stange zwischen zwei Pflöcken. Häftlinge wurden beim Verhör mit den Kniekehlen auf diese Stange gehängt, Hände und Füße zusammengebunden, und dann erbarmungslos geschlagen, manchmal bis zum Tod. Er hat nachher nicht mehr ausgesehen wie ein Mensch, sagte ein Zeuge über einen so Behandelten. Und dieser Boger steht jetzt neben mir. Ein unauffälliger Kleinbürgertyp, eine Kaffeetasse in der Hand.
Nach der Pause sagt ein Zeuge aus, der Fahrer in Auschwitz war. Er lenkte den Lastwagen, auf dem Häftlinge in die Gaskammer transportiert wurden. Es geht darum, wer den Befehl dazu gegeben hat. Der Zeuge schildert umständlich, dass er natürlich eine Fahrerlaubnis gehabt hatte, ein Dokument, das jeder vorweisen musste, der ein lagereigenes Fahrzeug benutzte. Der Mann ist ganz indigniert. Der Verdacht, dass er ohne ordentlich gestempelte Papiere mit einem Auto gefahren sein könnte, regt ihn viel mehr auf als die Tatsache, dass in diesem Auto Menschen in den Tod gefahren worden waren. Bei uns hat alles seine Ordnung gehabt, sagt er. Da hätte
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